VORURTEILSSTRATEGIE

■ Eröffnung des Theatertreffens mit Bernhards „Heldenplatz“

Schon seit Jahren hatten der Dichter und sein Stänkerer Thomas Bernhard und Claus Peymann - eine Generalreservierung im Zug der Zeit, der bekanntlich im Mai beim Theatertreffen immer in Berlin einfährt, und einen Fahrschein zum Gruppenreisetarif, d.h. mit Ermäßigung. Denn so genau wollte man es bei den beiden wohl nicht immer nehmen: Theatralische Lieferungen der bösen Buben mit Seniorenpaßanwartschaft wurden grundsätzlich bevorzugt behandelt - und da durfte es dann schon auch mal ein bisserl weniger sein, Hauptsache die Provokombination auf der Namensliste stimmte. Und für die letzte Fahrt der „Alten Liebe“ vom Wiener Burgtheater nach Berlin mit dem Vielzuspätwerk des frühverstorbenen Altaufrührers Bernhard in der Inszenierung des obligatorischen Uraufführers Peymann hätte auf den ersten Blick eventuell ein Kinderfahrschein gereicht.

Denn Bernhards Austrophobie-Drama Heldenplatz, das bei seiner Wiener Uraufführung anläßlich der fünfzigsten Wiederkehr des Jahres des Anschlusses Österreichs an Hitlerdeutschland und des 200sten Geburtstages des Burgtheaters im letzten November zum Abladen von Misthaufen vor dem Tatort Musentempel geführt hatte, scheint fern von Wien zunächst eher ein Pubertätsdrama des begabten Kindes zu sein. Vier Stunden pöbeln die Mitglieder einer jüdischen Intellektuellenfamilie anläßlich der Beerdigung eines der Ihren abwechselnd mit belanglosem Alltagsgeplänkel in Kernsätzen mit ewigen Wahrheiten gegen Österreich: „In jedem Wiener steckt ein Massenmörder.“ - „In Österreich mußt du entweder katholisch oder nationalsozialistisch sein.“ - „Die Wiener sind Judenhasser, und sie werden Judenhasser bleiben in alle Ewigkeit.“ - „Die Sozialisten sind im Grunde nichts anderes als katholische Nationalsozialisten.“ Etc. pp. Nicht daß irgendeine dieser Thesen begründet werden würde, nein, in Österreich ist einfach nur alles, alles Scheiße, soviel Scheiße, daß die wirkliche braune Bedrohung darin untergeht. Soweit so öde und so kindisch. Oder?

Bernhard/Peymann zeigen, daß Politik die Umkehrung des Stammtischs mit den eigenen Mitteln ist. Vorurteil reimen sie - kühn, komisch, dialogisch - an Vorurteil, Spruch folgt auf Spruch. Gelassen, tschechowmäßig, sitzen ihre Figuren im üblichen, kostbaren Bühnenbild von Karl-Ernst Herrmann locker um den Tisch im leergeräumten Speisezimmer in der Wohnung am ehemaligen Naziaufmarschplatz Heldenplatz, nachdem der alte Mathematikprofessor gerade einer zweiten Emigration nach Oxford durch seinen Selbstmord zuvorgekommen ist. Nichts Dumpfes haben deshalb diese dumpfen Tiraden, nichts Gemeines diese gemeinen Sprüche, nichts Bierseliges dieser nüchterne Amoklauf - wie auch, wenn nicht die Sieger, sondern auf einmal die Opfer hetzen? Keine festgeschlossenen Reihen, statt Sieges-, Untergangsgewißheit, trotzdem: die Angepöbelten pöbeln zurück.

Und diese Situation ist für ein Publikum offenbar ebenso neu wie bedrohlich und läßt nur wenig Reaktionsspielraum: Entweder man steigt auf den Jargon des Vorurteils ein und schlägt sich ob der Bernhardschen Späße auf die Schenkel erwischt. Oder man sitzt mit verkniffenem Mund da, regt sich über den Schmutz und Schund auf, den der Dichter da undifferenziert über ein ganzes Volk ausgießt, und steigt auf diese Weise auf die Ebene des Vorurteils ein - auch erwischt. Und auf dieser strategischen Ebene sind Bernhard/Peymann dann eben doch nicht so plump pubertär wie auf der Oberfläche des Inhalts, sondern, im Gegenteil, höchst raffiniert.

Gabriele Riedle