Die denunzierte Diva

■ Die Extreme berühren sich: ob sozialistischer Realismus oder postmoderner Enthusiasmus, beiden gilt die Moderne als hoffnungslose Verfallerscheinung

Was vor einem halben Jahrhundert, im Winter 1937/38, unter dem Synonym Expressionismusdebatte gegen sie aufgefahren wurde, das steht heute als postmodernes Geschütz, munitioniert mit andersartigen Sprengsätzen, doch von derselben Durchschlagskraft, ihr abermals unversöhnlich streitbar gegenüber. Von orthodoxen Widersachern einst als dekadent verschrien, von neuen Philosophen jüngst für tot erklärt, bleibt sie ein offensichtlich zyklisch gefährdetes Wesen, das ihre Verfechter nicht müde werden, in einer Melange aus Ehrfurcht und Stolz die Moderne zu nennen.

Zweifellos und paradox: ob sie gerade en vogue ist oder nicht, darüber entscheidet keine Debatte, sondern eine ungleich komplexere Dialektik, und die geriert sich bisweilen so launisch wie ungleichzeitig. Während in den Lesestuben des real existierenden Sozialismus nämlich die vordem so geschmähten Verfallsfiguren, heißen sie nun Leopold Bloom, Clov, Gregor Samsa oder Gesine Cresspahl, nach den imaginären Türen einer unauffindbar gewordenen Heimstatt zu suchen erst anfangen, ihr Anliegen sich mithin als endlich rehabilitiert erweist, gerät das gleiche Personal (und mit ihm eine ganze Ästhetik) diesseits der Weltnaht in die Scharmützel einer vermeintlich nach-modernen Vorhut des Denkens, deren Diskurse und Positionswechsel mit der gesellschaftlichen Hyperkrise zumindest eines gemeinsam haben: ihre Unübersichtlichkeit. Das macht die Sache nicht eben leicht, entbindet aber auch nicht von einem Versuch, Historisches und Brisantes zueinander in Beziehung zu setzen, um die verschwimmenden Konturen eines (modernen) Ästhetikbegriffs noch einmal kenntlich und die Muskulatur der Wahrnehmungsorgane wieder locker zu machen.

„(Heute) läßt sich klar erkennen, wes Geistes Kind der Expressionismus war und wohin dieser Geist, ganz befolgt, führt: in den Faschismus.“ Also urteilte Alfred Kurella im Frühherbst 1937 in der Moskauer Exilzeitschrift 'Das Wort‘ (vor dem Hintergrund der soeben in München eröffneten Ausstellung Entartete Kunst scheinbar makaber). Doch was als Auftakt einer Diskussion um Wesen und Wirkung des Expressionismus gedacht war, entfachte schon bald eine monatelange Kontroverse, die Georg Lukacs, Vertreter einer streng marxistischen Literaturtheorie, auf ihren eigentlichen Punkt brachte: „Es geht um den Realismus.“

Unter diesem programmatischen Titel druckte 'Das Wort‘ seine Philippika gegen die avantgardistisch-modernen Tendenzen der Literatur „vom Naturalismus bis zum Surrealismus“, in denen Lukacs nur mehr Symptome des kulturellen Niedergangs, eine „immer stärkere Entfernung vom Realismus“, entdeckt. Joyce, Proust, Kafka, Dos Passos, innerer Monolog, Montagetechnik oder episches Theater - nach dem Kunstverständnis des Budapester Bankiersohnes nichts als welke Blüten auf den Sümpfen des Spätkapitalismus. Nein, nicht die unmittelbare Darstellung des „Chaos“ einer aus den Fugen geratenen Welt sei die Aufgabe von Literatur, zumal einer sozialistischen, sondern die „Wirklichkeit so zu erfassen, wie sie tatsächlich beschaffen ist“, vorzudringen also zu den unter der Oberfläche verborgenen „Gesetzmäßigkeiten“, die jene erst „objektiv hervorbringen“. Sein Gegenentwurf zur Moderne, ausgerichtet nach der sowjetischen Kunstdoktrin eines Sozialistischen Realismus sowie der Hegelschen Trennung des Klassisch-Gesunden von der Romantik als dem Kranken, führt Lukacs schließlich zurück in die soignierte Kunstwelt des 19.Jahrhunderts zum organisch geschlossenen Romanwerk der Balzac, Tolstoi, Stendhal. Allein an ihrer Poetik sollte auch die Gegenwartsliteratur sich schadlos halten. Als vorbildhafter „Realist“ unter den Lebenden wurde Thomas Mann gepriesen, der - kuriose Kumpanei - Lukacs den „Sinn für Kontinuität“ bescheinigte.

Zu den von Lukacs und seinen Anhängern des bloß abstrakt formalistischen Avantgardismus, also der Dekadenz, Bezichtigten zählten plötzlich aber auch bürgerlicher Positionen gänzlich Unverdächtige, allen voran der Stückeschreiber Brecht und Ernst Bloch. Gegen die naive Gleichsetzung von einem „Experiment des Zerfällens mit dem Zustand des Verfalls“ konterte zunächst Bloch: „Die Expressionisten waren Pioniere des Zerfalls: wäre es besser gewesen, wenn sie Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus hätten sein wollen? Wenn sie den Oberflächenzusammenhang wieder geflickt hätten, (...) statt ihn weiter aufzureißen?“ Blochs rhetorische Frage enthält in nuce das, was er von Kunst erwartet: keine idealistische Verkleisterung gesellschaftlicher Brüche, keine Vorspiegelung einer ewig besseren Welt im besnänftigenden Schein des Guten und Schönen, sondern Zersetzung, Aufsprengung der monströs verkrusteten Dingwelt, bis etwas anderes, etwas von der kaschierten Wahrheit, hervorlugt, die hinüberreichen könnte in ein Noch-nicht-Gewordenes. Für den Philosophen des Prinzips Hoffnung birgt das moderne Kunstwerk immer beides: Verheißung des Möglichen und Appell eines erst möglich zu Machenden. Und indem es sich - hier der Dissens zu Lukacs - dem Postulat eines gesetzmäßigen Ablaufs von Geschichte verweigert, bleibt es prinzipiell offen und bietet Raum für das Unfertige, Ausgegrenzte, Diffuse, Fremde, Rätselhafte. Denn allemal: „Der Mensch ist noch undicht.“

Brechts Argumente gegen den „Kunstrichter“ Lukacs - aus Gründen antifaschistischer Bündnisräson ließ er sie unveröffentlicht - korrespondieren im Wesentlichen mit denen Blochs. Wie dieser wehrte auch Brecht sich mit Vehemenz (und marxistisch), „den Realismus zu einer Formsache zu machen“, die künstlerische Erfassung der Wirklichkeit in die Modelle der klassisch bürgerlichen Epoche zu zwängen. „Denn die Zeiten fließen, und flössen sie nicht, stünde es schlimm für die, die nicht an den goldenen Tischen sitzen. Die Methoden verbrauchen sich, die Reize versagen. Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel.“ Experimentelle wie seinen Verfremdungseffekt etwa, die der Aufklärer Brecht zur Entlarvung gesellschaftlicher Widersprüche einsetzen will. Realistische Kunst ist für ihn „eine Kunst, welche die Realität gegen die Ideologien führt“. Und nicht umgekehrt! Kritik also statt Katharsis, Aktivierung zu revolutionärem Handeln und nicht länger mehr Kontemplation in „bleibende Gestalten“ (Lukacs).

Auf die künstlerischen Entwicklungen in der DDR nach 1945 indes hatten weder Bloch noch Brecht Einfluß. Lukacs‘ Dogma einer „Säuberung der Literatur von den Einbrüchen der Dekadenz“ (Mittenzwei) setzte sich durch; für die schöpferische Produktivität mit fatalen Konsequenzen: Abgerichtet auf die Tektonik des „klassischen Erbes“ und zur „Parteilichkeit“ verpflichtet lief die Wirklichkeit ihr bald auf und davon... Und während Alexander Abusch, stellvertretender Kulturminister der DDR, noch 1965 dekretierte, im Sozialismus gebe es keine „kafkaeske All und Übermacht unfaßbarer Gewalten“, da wußte es ihr einstiger Chefideologe in Sachen Ästhetik längst besser. Nach dem Ungarn-Aufstand von 1956, verhaftet und bei Nacht und Nebel ins Ungewisse deportiert, soll es Lukacs über die Lippen gekommen sein: „Kafka war doch ein Realist.“ Zu spät; denn da war Kafka, war die Moderne für den Arbeiter- und Bauernstaat bereits „durchgefallen“ (Becher).

Die DDR hat bekanntlich lange nachsitzen müssen, bis sie den Sprung aus dem Reich der Verdrängung in das der kulturellen Notwendigkeit vollzog. Gemessen an einer schier unüberbrückbar gewordenen Kluft zwischen der Entfremdung des Einzelnen und dem versprochenen Ganzen bedurfte es zuletzt allerdings nur mehr des ideologischen Hüpfers denn eines Hechtsprungs, der künstlerischen Arbeit nicht länger das Abfeiern des „positiven Helden“ aufzunötigen. Neue (alte) Darstellungsweisen und zeitgemäße Ausdrucksformen erwiesen sich, renitenter Unbelehrbarkeit manchem Apparatschik zum Trotz, als überfällig. „Das gewaltsame Erfassenwollen sozialer Totalität“ (de Bruyn) wich solchen Modellen, die sich dem Trugbild fertiger Lösungen entziehen „und denen in der Zukunft nur deshalb Wirkliches entsprechen wird, weil die Gesellschaft ihre Kraft einsetzt, um dieses Modell zu verwirklichen.“ So Irmtraud Morgner, exemplarisch für die langsame Heimkehr der Moderne in die Kunstreservate des Sozialismus, in ihrem 1973 publizierten Montage-Opus Leben und Abteuer der Trobadora Beatrix

Gleichwohl, die Geschichte des Abendlandes schreibt weiter an ihrer Groteske: Während die Liebhaber des Sozialistischen Realismus die Zangengeburt der Utopie aus dem Geist des „Marxismus“ (Bloch) erleben; während Becketts Bühnengeschöpfe, von Lukacs seinerzeit noch „des Pathologischen, der Perversität, des Idiotismus“ bezichtigt, auch in Ost-Berlin das Licht der Welt erblicken; während vormals Verfemte - fiktive wie der Blechtrommler als auch Leibhaftige wie Hans Mayer - mittlerweile an ihren einstigen Wirkungsstätten reüssieren, da steigt am Horizont des entgegensetzten Systems die Postmoderne wie Phoenix aus der Asche. Dort das Verschwinden antimoderner Kunstrezepte, hier die Ankunft eines Phantoms, von dem die einen sagen, es desavouiere die Unternehmungen der Moderne in toto als gigantischen Irrtum, andere wiederum behaupten, es künde, vom Zeitgeist umjubelt, das fröhliche D'accord mit dem Herannahen einer nach-humanistischen Ära.

Irgendwo im digitalgesellschaftlichen Dickicht des Vergessens, zwischen den Wucherungen eines manipulierbar geglaubten Fortschritts und heraufziehender Menschheitsdämmerung jedenfalls hat sich eingenistet - die Postmoderne. Ihr theoretisches Fundament freilich, auf dem Frankreichs Neue Philosophien später aufbauten, wurde von US-amerikanischen Kritikern wie Leslie A. Fiedler, Ihab Hassan und Susan Sontag bereits in den sechziger Jahren gelegt.

Schon damals deklamierte Fiedler mit Verve und gegen den bis dahin hartnäckig verteidigten Freiheitsspielraum der Kunst sein nach-modernes Manifest. Statt utopischer „Beutezüge ins Unmögliche“ verlangte er, die Lücke zwischen hoher Literatur und trivialer zu schließen, das artifizielle Konstrukt einzutunken in die knallig-bunte Brandung aus Western, Pornographie, Science-Ficion, Pop-Mythen und Magie. „Traum, Vision, Ekstase, das will die neue Literatur.“ Kunst nicht länger mehr als „Gleichnis eines Anderen“ (Adorno), sondern „just as anything else in life“ (Hassan), als zeitgemäßer Ausdruck von „fröhlicher Unvernunft und prophetischer Verantwortungslosigkeit“. Und siehe da (und dort!): Das dissonierende Ensemble der Modernen, die zumindest für den Moment noch ein wahres Leben im falschen zu inszenieren sich abmühten, mutiert nun happy -go-lucky zu Kintopphelden, Comic-Stars und kosmischen Überfliegern

Ähnlich auch Susan Sontag, die die Kunst von der Bürde der „Kritik“ befreit wissen und ihr nur mehr eine „Erweiterung des Lebens“ zumuten will, sieht neuerdings Jean-Fran?ois Lyotard, Hauptvertreter des Postmodernismus französischer Couleur, die Aufgabe der Kunst dann erfüllt, wenn sie „eine Lust der Erleichterung, des Frohseins“ verschafft. Denn, so sekundiert sein Endspielpartner Jean Baudrillard: „Es ist nichts mehr zu erwarten...“. Vom Terror der jüngsten Geschichte bis hin zu ihrer jederzeit machbaren Apokalypse Lügen gestraft, habe auch die ästhetisch flankierende „Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen“ (Adorno) sich gleichsam von selbst disqualifiziert. Der modernen Illusion eines versöhnenden Utopia entspreche die Untauglichkeit einer Kunst, die seine Abwesenheit unverdrossen einklagt. Folglich lautet die Parole Lyotards und seiner Kombattanten: „Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen.“

Was aber bedeutet dies für die ästhetische Praxis? Letztlich doch wohl den Ausverkauf einer Kust des Widerstehens, die - wie immer, wo Verzicht auf Zukunft angesagt ist -, umzuschlagen droht in eine leichtfertige Absolution des Status quo. Eine Parakunst, die nicht nach vorne blickt, sondern nahtlos in die Breite geht, die Plagiat und Pop, Klischee und Kitsch, Parodie und Pastiche aufmischt zu einem kybernetischen Verwirrspiel, einem Puzzle aus Partikeln des Bekannten - sie durchbricht nicht den faulen Zauber des Kapitalismus, sie betreibt, ohne emanzipatorischen Impuls!, nur einmal mehr sein glänzendes Geschäft.

Zu konstatieren bleibt (und das stimmt nachdenklich): Die Denunziation der künstlerischen Moderne als hoffnungslose Verfallserscheinung, als kapitalistischer Trick, so das bis gestern sakrosankte Theorem des Sozialistischen Realismus, korrespondiert auf merkwürrdige Weise mit Tendenzen eines postmodernen Enthusiasmus, nicht nur das vermeintlich marode Projekt der Moderne links liegen zu lassen, sondern auch und gerade seinen unbequemsten Begleiter, die Kunst, schnurstracks auf den kulturellen Tivoli willkommener Beliebigkeiten zu schicken. Denn allzu offensichtlich fügt sich der Budenzauber vom Anything goes in das hedonistische Gesamtspektakel eines längst auch ideologisch funktionierenden Rien ne va plus. Der Wahrheitsanspruch der Kunst, von Kulturpolizisten im Osten lange Zeit und zuletzt vergeblich gemaßregelt, geht jetzt also weiter westlich gegen Null, und, mit postmoderner Lebenslust, der Kulturindustrie bereitwillig auf den Leim. Den Verdacht, daß hier wieder einmal die Anziehungskräfte systematischer Gegensätze wirksam sind, kann die von Nietzsches Kindeskindern ausgerufene „Moderne ohne Trauer“, die - so oder so - sich als ihr letzter Schrei erweisen wird, nicht entkräften. Wie immer nämlich, wenn Kunst sich einspielt aufs Gewünschte, bleibt eines auf der Strecke, das leidende Subjekt, das schon seit langem keines mehr ist.

Michael Kohtes