Unzähmbarer Springteufel Maradona

Erstes UEFA-Cup-Finale: SSC Neapel - VfB Stuttgart 2:1 / Spät wird ein Torwartfehler korrigiert  ■  Aus Neapel Werner Raith

Neapel hat ihn wieder, seinen „großen kleinen Mann“: Diego Amando Maradona. Wieder einmal hat der Argentinier nicht nur stellenweise, sondern über ganze Spielzüge etwas von dem erkennen lassen, was ihn den Italienern so unendlich ans Herz wachsen ließ: einen kämpferischen Einsatz bis zum Umfallen und eine Phantasie, die zu zerstören auch Stuttgarts härtester Umsäbler Schröder nicht nachhaltig imstande war. Zwar sah Neapel die erste Viertelstunde den Argentinier eher auf der Flucht vor dem Stuttgarter Sonderbewacher Hartmann als beim Spiel mit dem Ball.

„Die sind wohl erstmal darauf aus, die Hackordnung klarzustellen“, kommentiert bissig neben mir Gigi D'Auria, Steuerberater und Trainer des B-Klassenvereins aus dem nahen Camaldoli, der seinen 15 Schützlingen zur Belohnung für den eben errungenen Aufstieg den Stadiongang spendiert hat. „Aber das ist genau das falsche Konzept gegen Diego: Wenn der eine Wut kriegt, wird er immer ganz groß.“ Recht hat er: Hakenschlagend und oft ganz ungewohnt an der Linie entlang Kunststückchen vorführend, sucht der Argentinier, seine immer atemloseren Verfolger zu verwirren, bis sie ihn legen

-und ganz anders als sonst bleibt der bisher immer so verletzungsanfällige Argentinier nicht schmerzverzerrt liegen, sondern spurtet sofort, mit dem Freistoß ausgestattet, zur nächsten Attacke.

Daß der deutlich steigende Ärger der Teutonen über den unzähmbaren Springteufel im blauen Trikot nicht in reine Holzerei ausartet, verdanken die Euro-Fußballer dem griechischen Schiedsrichter Germanakos - der hat die Eigenschaft, nach jedem Foul so ernst und gemessen an den Tatort zu schreiten (keiner hat ihn je beim wütigen Heranrennen beobachtet), als gelte es, ein Todesurteil zu vollstrecken, und die Art, wie Stuttgart- und Neapelspieler sich schnell verkrümeln, zeigt, daß alle stets und immerdar eine Gelbe Karte erwarten.

Dennoch passierte dann das Ungeheuerliche, das Unerwartete, eben das 0:1. Ungeheuerlich nicht die Tatsache, daß ein Stuttgarter 25-Meter-Schuß trifft. Ungeheuerlich auch nicht, daß der Torhüter Giuliani den keineswegs unhaltbaren Ball aus den Händen nach oben ins Eck rutschen läßt ungeheuerlich aber die Tatsache, daß Mauricio Gaudino der Schütze ist. Er, den die Neapolitaner wegen seiner italienischen Eltern mit Geburtsort beim nahen Salerno zu einem der Ihren erklärt und mit fast ähnlicher Hätschelei wie alljährlich den aus Buenos Aires heimkehrenden Diego empfangen hatten - ja, was soll man da sagen.

Schlagartig sind die Gesänge verstummt, Mittelstürmer Barry von Camaldoli versucht sich in einer Verrätertheorie („Trau nie einem aus Salerno“), aber sein gebildeter Trainer wischt das weg: „Das hängt nicht damit zusammen. Das kann man auch nicht mit Überraschung erklären oder mit Spielstärke. Da ist was im Stadion, was die Stuttgarter bevorzugt.“ Nach einer Viertelstunde, die Neapolitaner berennen weiterhin vergeblich das Tor der Schwaben, hat er die Erklärung: „Da da, da oben, das ist es.“ Spukt etwa schon wieder der Heilige Gennaro herein, der neapolitanische Schutzheilige mit oft eigenwilligen Neigungen, gerade, was Fußball angeht? Nein: Gigi zeigt auf die mächtigen Eisenträger mit dem verwirrenden Stahlgeäst, das sich als Rohbau für das zur Fußball-WM vorgeschriebene Rundum-Dach über das Stadion spannt: „Das bringt die Unseren völlig durcheinander. Die sind, anders als die Deutschen, das Spiel in Luft und Freiheit gewohnt, unter dem reinen, blauen Himmel“ fraglich allerdings, wann sie den angesichts der Stinkschwaden vom nahen Industrie-Konglomerat Bagnoli zum letztenmal gesehen haben. Und daß die Maradona-Mannen vor drei Wochen so gut gegen die Bayern gespielt haben, just unter diesem Gerüst? „Da war es noch nicht so alptraumhaft vorangetrieben.“

Ob das mit der Klaustrophobie der Neapolitaner stimmt oder nicht: die Erinnerung an das Bayern-Spiel scheint angesichts der Hackerei und der dauernden Unterbrechungen (Stuttgarts Betreuer wetzen alle zwei Minuten mit ihrem Köfferchen oder gar mit der Bahre aufs Spielfeld, bis der Schiedsrichter sie endlich mit drohender Gebärde wegscheucht) bei vielen lebendig zu werden: „Speriam‘ che tornerann‘ i Bayern“ („Hoffen wir, daß die Bayern wiederkommen“), singen sie plötzlich in der Südkurve nach der Melodie von „So ein Tag, so wunderschön wie heute...“. „Die waren auch hart“, kommentiert neben mir RAI-Reporter Sandro Giotti, „aber die hatten gleichzeitig Eleganz, Spielwitz, haben Fußball auch als Darbietung fürs Auge aufgefaßt.“

Dann bringen Maradonas Elfmeter in der 69. und Carecas Tor aus dem Torraum-Gewurstel in der 88. Minute die Welt der Neapolitaner jedenfalls vorläufig wieder in Ordnung. Auch wenn inzwischen der einzige den Stuttgartern an Druck ebenbürtige Crippa seine letzte Verwarnung bekommen hat und beim Rückspiel nicht dabeisein wird. „Die müssen halt jetzt noch mehr als vorher auf die Ausländer setzen“, sagt Gigi und zieht die Schultern hoch, „denn gewonnen haben die Partie gerade die drei, die die Deutschen nicht zum Spiel kommen lassen wollten.“

In der Tat hat man, außer von Maradona, viel von den Brasilianern Careca und Alemao gesehen, aber kaum etwas von den lokalen Cracks Carnevale und de Napoli. Der Meinung ist offenbar auch Trainer Ottaviano Bianchi - er, der immer griesgrämig dreinschaut und bis zum 1:1 den Eindruck erweckte, als wolle er aufs Dachgerüst klettern und herunterspringen („Stuttgart ist eine Mannschaft, die sich weigert, Fußball zu spielen“). Er soll nach glaubhaften Aussagen der italienischen Kollegen bei Spielschluß sogar dabei ertappt worden sein, wie er eine halbe Sekunde gegrinst - und dabei dem von ihm ungeliebten Star Maradona einen freundlichen Klaps auf die Schulter gegeben hat.

NEAPEL: Giuliani - Renica - Ferrara, Corradini (46.Crippa) de Napoli, Maradona, Francini, Fusi, Alemao - Careca, Carnevale

STUTTGART: Immel - Allgöwer - Buchwald, Nils Schmäler, Schäfer - Katanec, Hartmann, Sigurvinsson, Schröder Gaudio, Walter (75.Zietsch)

TORE: 0:1 Gaudino (17.), 1:1 Maradona (69.Hand11Meter), 2:1 Careca (88.)