Gorbatschows Politik zeigt Wirkung

■ Debatte um die Kurzstreckenraketen ist ein Symptom für die Legitimationskrise der Nato

KOMMENTARE

Als in den USA und Großbritannien vor zwei Wochen erstmals das Schlagwort von der Krise in der Nato die Runde machte, konnte man in der Bundesrepublik darüber nur irritiert den Kopf schütteln. Warum sollte der Streit um die Aufrüstung eines Waffensystems, bei dem es der Koalition in Bonn lediglich um die Durchsetzungsmodalitäten für Zeitpunkt und Umfang der Stationierung ging, zu einer von der Linken lange erhofften Krise in der Nordatlantischen Allianz führen? Und warum sollte ausgerechnet Kohl diesen Konflikt herbeiführen?

Die zweite Frage läßt sich noch am einfachsten beantworten. Bush und Thatcher haben Kohl buchstäblich keine andere Wahl gelassen. Die Bundesregierung ist mit der Vorstellung an die Nato herangetreten, die Aufrüstungsentscheidung für die Kurzstreckenraketen erst nach der Wahl 1990 zu treffen und zudem die geplante Aufrüstung wenigstens formell in Verhandlungen mit der UdSSR zur Disposition zu stellen. Der zweite Punkt entspricht der Beschlußlage der Nato, das erste hoffte Kohl als Wahlkampfhilfe von seinen „Freunden“ erwarten zu dürfen.

Statt dessen kam der anglo-amerikanische Aufschrei. Ob aus taktischem Unvermögen oder tatsächlicher strategischer Überlegung heraus: die Aufrüstung atomarer Kurzstreckenraketen auf bundesdeutschem Boden wurde zur Bruchstelle der Nato-Raison erklärt. Jetzt ließ sich die Diskussion über die Bundesrepublik als Glacis der US -Kriegsführung in Europa nicht länger unter der Decke halten. Plötzlich erinnerte sich auch die CDU/CSU -Stahlhelmfraktion wieder ihrer Forderung nach Abrüstung solcher Atomwaffen, die qua Reichweite nur in der BRD oder DDR, jedenfalls auch in ihrer modernisierten Version nicht die Sowjetunion treffen können. Einmal an diesem Punkt angekommen, haben die atlantischen Hardliner sich eine Debatte eingebrockt, die auch vor der entscheidenden Frage nicht mehr haltmachen wird: Wie halten wir es mit Gorbatschow?

Kohl weiß, daß seine Politik der öffentlichen Meinung in der BRD weit hinterherhinkt. Dazu kommt, daß zumindest Genscher und mit ihm der relevante Teil seiner Partei nicht nur aus taktischen Erwägungen heraus, sondern aus Überzeugung auf einen „Gezeitenwechsel“ im Ost-West -Verhältnis setzen. Da trifft es sich, daß Überzeugung und innenpolitische Notwendigkeit für die FDP zur Zeit kongruent sind.

Klügere US-Politiker wie Nitze haben vorausgesehen, daß die Debatte zum Nato-Grundsatzkonflikt wird, und Bush längst zum Einlenken gedrängt. Im Sinne der Friedensbewegung kann man nur sagen: Hoffentlich ohne Erfolg. Endlich hat sich die Nato insgesamt in eine Ecke manövriert, aus der sie mit ihrer Standardformel auf Gorbatschow-Vorschläge - „Wir werden diese Vorschläge aufmerksam prüfen, aber Gorbatschow sollte doch noch etwas zulegen“ - nicht mehr herauskommt.

Die Auseinandersetzung um die Kurzstreckenwaffen ist jetzt zum Ersatz für ein Konzept der militärischen Neuordnung in Europa geworden. Gerade die Bundesdeutschen müssen Interesse daran haben, daß diese Diskussion Konsequenzen hat. Dazu gehört, innenpolitisch jetzt auf eine Festlegung der Nullösung als Verhandlungsziel zu drängen.

Je sturer das Gespann Bush-Thatcher sich zeigt, um so einfacher wird es, alternative Optionen zu formulieren. Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, offensiv und konkret für eine Ostpolitik zu werben, die eine neue Ära der Nachkriegsgeschichte einleiten kann. Denn noch wird das Militärbündnis letztlich in der Lage sein, die Widersprüche mit einem Kompromiß zuzudecken.

Jürgen Gottschlich