Raketenkompromisse - im Dutzend billiger

■ Täglich neue Vorschläge zur transatlantischen Krisenentschärfung / Nach einem angeblichen US-Vorstoß präsentiert nun Kanada einen neuen Doppelbeschluß / Erste Risse in der Bonner Koalition: FDP-Sprecher will lieber „keine Einigung als einen faulen Kompromiß“

Berlin (taz) - Hollands Lubbers in Bonn, Norwegens Frau Brundtland und Kanadas Mulroney in Washington - seit Tagen geben sich die Regierungschefs der Nato-Mitgliedsländer die Klinke in die Hand, um möglichst doch noch vor dem Gipfel Ende Mai im Streit um die atomaren Kurzstreckenraketen zu einem Kompromiß zu kommen, der allen Seiten erlaubt, das Gesicht zu wahren. Der neueste Vorschlag aus Kanada sieht eine Neuauflage des Nato-Doppelschlusses von 1979 vor, diesmal bezogen auf die Kurzstreckenraketen und gleich mit der Einschränkung versehen, eine Null-Lösung als Ergebnis von Verhandlungen solle von vorneherein ausgeschlossen werden.

Bereits vorher hatten die USA eine Idee lanciert, die allerdings in Bonn äußerst skeptisch aufgefaßt wurde. Danach sollte als Lance-Folgesystem die im Momnet auf Eis gelegte Entwicklung einer konventionellen Rakete, an deren Herstellung MBB beteiligt war, weitergeführt und letztlich stationiert werden. Nach bisherigen Informationen war diese Rakete als dual-use-system gedacht, also sowohl für konventionelle wie auch atomare Sprengköpfe geeignet. Bonns Regierungssprecher Klein bezeichnete dies als „schwer vorstellbare Spekulation“. Er glaube nicht, daß die USA in der derzeitigen Situation tatsächlich die Entwicklung einer deutschen Kurzstreckenrakete vorschlagen würden. Nach einem Bericht der 'Los Angeles Times‘ sollen die USA Genscher bereits vorher angeboten haben, die veralteten „Lance„ -Raketen einseitig zu verringern und gleichzeitig eine kleinere Zahl neuer und modernerer Kurzstreckenraketen zu stationieren. Parallel soll Moskau aufgefordert werden, seine Kurzstreckenraketen auf das US-Niveau zu reduzieren. Die dritte Variante ist die Einsetzung einer speziellen Nato -Arbeitsgruppe, die das Problem weiter studieren soll.

Während über die Gespräche zwischen Kohl und Lubbers bislang nichts bekannt wurde, hat Bush im Anschluß an den Besuch Frau Brundtlands noch einmal sein Nein gegenüber einem Verhandlungsangebot bekräftigt. Sein Verteidigungsminister Cheney tönte sogar, für den Fall einer Null-Lösung könne er die amerikanischen Truppen nicht mehr guten Gewissens in der BRD belassen. Dem entgegen formiert sich auch in den USA langsam eine Gruppe von überwiegend demokratischen Verteidigungsexperten, die auf ein Einlenken mit Bonn drängen. Angeführt von Reagans früherem Chefunterhändler Paul Nitze, plädieren sie für ein Verhandlungsangebot, da den Bundesdeutschen die aktuelle US -Position nicht zu vermitteln sei. „Ich kann mir keinen Deutschen vorstellen, der dem zustimmt“, meinte Nitze in der 'New York Times‘. Die Bush-Regierung verpasse wegen ihrer Profilierungssucht alle Möglichkeiten, das Verhältnis zu Moskau zu verbessern.

Innerhalb der Bundesregierung zeigten sich am Donnerstag erste Risse in der Koalition. Während die FDP die Notwendigkeit weiterer Abrüstungsschritte betonte, orakelte Regierungssprecher Klein von möglichen Kompromißlinien. Genscher betonte in einem Interview, über die „Raketenstationierung auf unserem Boden haben wir das erste und letzte Wort“, und der Verteidigungspolitische Sprecher der FDP Feldmann bekräftigte, keine Einigung sei ihm lieber, „als ein fauler Kompromiß“. Wie der von Klein angesprochene „sinnvolle Kompromiß“ aussehen könnte, ist längst kein Geheimnis mehr. Die „baldigen“ Verhandlungen werden auf nach 1990 vertagt und „positive“ Ergebnisse bei den Gesprächen über konventionelle Abrüstung gekoppelt. Bei einem solchen Junktim können die USA gefahrlos grundsätzlich Verhandlungen zustimmen und den konkreten Beginn beliebig verzögern.

Heute werden nach sechswöchiger Pause die Wiener Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung wieder aufgenommen. Westliche Diplomaten bewerten die Gespräche als „Testfall“, ob Moskau die Nato-interne Kontroverse zur Verzögerung bei der konventionellen Abrüstung „auszunutzen versuche“.

JG