Buhlen um Anerkennung

■ Die 'Zeitschrift für Sexualforschung‘ - eine Neuerscheinung

Heide Soltau

Die Sexuologen haben nun auch eine Zeitschrift wie alle richtigen Wissenschaftler. Das ist bemerkenswert. Denn auch ohne ein regelmäßig erscheinendes Organ können sie sich eigentlich nicht über mangelndes Interesse an ihrer Arbeit beklagen. Ihre Publikationen sind des öfteren Stein des Anstoßes für öffentliche Diskussionen, sogar Dissertationen. Welcher Disziplin wird sonst diese Ehre zuteil? Als der Sexualwissenschaftler Ulrich Clement 1986 seine Untersuchung zum Sexualverhalten von Studenten (Sexualität im sozialen Wandel, Enke-Verlag, Stuttgart) vorlegte, wurde sie von der Presse weidlich ausgeschlachtet und selbst im fernen Sri Lanka erwähnt. In einer Tageszeitung. Doch was den Sexuologen bisweilen fehlte, war die wissenschaftliche Reputation.

Seit einem Jahr erscheint nun die Zeitschrift für Sexualforschung, die unter anderem diesem Mangel abhelfen soll. Fünf Hefte liegen bisher vor, genug für eine erste Bilanz. Um es vorweg zu sagen: Es handelt sich um ein bemühtes, im Stil konventionelles Projekt. Den Beiträgen ist anzumerken, wie sich die Autoren abgemüht haben, das geforderte Niveau zu bringen. Denn das müssen und wollen sie. Wie in keiner anderen Disziplin erscheint unter dem Stichwort Sexualwissenschaft höchst Zweifelhaftes: Da gibt es die selbsternannten Heiler, die den Orgasmus immer noch als Allheilmittel für psychische Probleme preisen, oder die eifrigen Mediziner, die dem Sexuellen mit Messer und Spritze beikommen wollen.

Volkmar Siguschs Beitrag im ersten Heft der Zeitschrift für Sexualforschung kommt somit programmatische Bedeutung zu. Er legt dar, an welchem Konzept von Sexualität man sich orientiert, und präsentiert eine eindrucksvolle Kür. Um wissenschaftliches Niveau besorgt, versäumt es der Frankfurter Sexuologe nicht, neben Horkheimer, Adorno, Hegel und Freud auch auf die französische Schule einzugehen und wenigstens Foucault und Lyotard zu erwähnen. Und natürlich kennt der fleißige Professor auch seinen Marx, hat Habermas gelesen und Geschichtsforschung betrieben.

Ein kluger Mann, sollte man meinen. Nur bringt es Sigusch tatsächlich fertig, keine einzige Frau zu zitieren. Das wiegt umso schwerer, als sein Aufsatz Was heißt kritische Sexualwissenschaft? nicht nur als individuelle Position eines Wissenschaftlers aufgefaßt werden darf, sondern als programmatische Erklärung des Herausgeberkollektivs gewertet werden muß. Sigusch würdigt sie alle, seine lieben Kollegen: Martin Dannecker, Friedemann Pfäfflin, Gunter Schmidt und Eberhard Schorsch. Und die Frauen? Tja, damit haben die Sexualwissenschaftler bekanntlich nicht viel im Sinn. Sie befassen sich lieber mit dem eigenen Geschlecht. Gerechterweise muß ergänzt werden, daß inzwischen Margret Hauch und Sophinette Becker in das Herausgebergremium eingetreten sind. Man scheint gemerkt zu haben, daß etwas fehlt. Nach einem Jahr.

Gleichwohl ist die von Sigusch vorgenommene Standortbestimmung seiner Zunft lesenswert, weil sie wichtige Prämissen enthält. Die kritische Sexualwissenschaft, zu der sich die Herausgeber bekennen, begreift die sexuelle Frage weder als biologische noch als seelische, sondern zunächst als gesellschaftliche. Die klare Abgrenzung von einem naturwissenschaftlichen Ansatz ist in der Tat nötig, wie Sigusch darlegt und an einem Beispiel illustriert: Die Auffassung, daß Impotenz ausschließlich eine organische Krankheit ist, erfreut sich äußerster Beliebtheit. Die Tendenz zur Medikalisierung der Sexualität ist steigend. Weniger einsichtig scheint mir die Abgrenzung von den „seelischen Fragestellungen“, wie Sigusch sie nennt. Zu verstehen ist diese Berührungsangst nur aus dem schwierigen und angespannten Verhältnis von Sexualwissenschaft und Psychoanalyse - was schon mit der Geschichte der beiden Disziplinen zu tun hat. Die Sexualwissenschaft war primär eine empirische, die Psychoanalyse eine theoretische Wissenschaft. Weil ihre Väter, zu denen vor allem Krafft-Ebing und Hirschfeld gehören, geradezu wahnhafte Sammler und Vermesser waren, haftet den Sexuologen bis heute der Ruf der Faktenhuberei an. Das mag mit eine Rolle spielen, daß sie immer noch um Anerkennung kämpfen und sich vom großen Bruder Psychoanalyse eingeschüchtert fühlen. Anders jedenfalls sind die regelmäßigen Hiebe gegen die Freudsche Theorie nicht zu verstehen.

Für Sigusch ist jede Theorie des Sexuellen „prekär“, er betont die „Unmöglichkeit, es zu definieren“. Das bedeutet, die Sexualwissenschaft liegt quer zum herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb und reicht in andere Disziplinen hinein. Das klingt gut, nur sind damit hohe Ansprüche formuliert worden, von denen sich Siguschs Kollegen möglicherweise eher erschlagen als beflügelt fühlen. Die bisher in der Zeitschrift publizierten Beiträge jedenfalls sind kaum geeignet, das von Sigusch dargelegte Konzept einzulösen. Da gibt es schlichte empirische Studien und Fallberichte, die viel zu wenig mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen verknüpft sind. Das gilt für den Vergleich von Sexualverhalten und Einstellungen zur Sexualität bei Studenten in der BRD und DDR, die Untersuchung zum Sexualverhalten von Studenten und Aids (wobei der Titel schon unsinnig ist und wohl besser heißen müßte: Sexualverhalten von Studenten im Zeitalter von Aids) und auch für den Bericht zum Thema Politische Gefangene als Opfer sexueller Folter. Die drei Aufsätze enthalten interessante Daten und Fakten, aber mehr nicht.

Andere Beiträge wiederholen nur allseits Bekanntes. Stellvertretend sei hier auf Reimut Reiches Aids im individuellen und kollektiven Unbewußten hingewiesen. Eine Abhandlung, die kaum über das hinausgeht, was wir aus den Medien wissen, zu wenig für eine Zeitschrift, die wissenschaftlich sein will. Gleichwohl gibt es bei aller Begrenztheit auch Interessantes zu lesen, wie etwa die niederländische Studie von Jos Frenken und Bram van Stolk über Frauen als Opfer eines Inzests. Sie kommen zu anderen Ergebnissen als die jüngste amerikanische Studie zum Thema. Ihnen zufolge „sind gut die Hälfte der Täter biologische Väter“ und nicht Onkeln und Vettern, wie in der amerikanischen Studie. Auch sind die Opfer deutlich jünger als bisher angenommen.

Hervorgehoben sei ferner die zweiteilige Abhandlung von Ruth Waldeck zum Thema Menstruation, das von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft bisher viel zu wenig beachtet wurde. Obwohl der Vorgang, die Blutung, kein Geheimnis mehr ist, gilt die Menstruation selbst noch als Tabu. Lust, Stolz und Schrecken sind Gefühle, die sich heute kaum mit der Menstruation verknüpfen - dürfen. Damit sind Frauen und Mädchen wichtige erotische Erfahrungen versperrt, Erfahrungen, die sie unabhängig vom männlichen Geschlecht machen und die deshalb auch einen Aspekt von Emanzipation enthalten.

Ein letzter Essay sei noch erwähnt, die Betrachtung von Robert J.Stoller: Ästhetik der Erotik. Dabei handelt es sich mehr um ein Fragment als um eine geschlossene Argumentation. Doch gerade weil Stoller den Mut hat, Angedachtes zur Diskussion zu stellen, ist sein Text außerordentlich anregend. Er zeigt, daß auch bei der gewöhnlich als unästhetisch empfundenen Nekrophilie die Ästhetik eine entscheidende Rolle spielt. Anhand von Fallgeschichten aus der psychotherapeutischen Praxis illustriert er den Zusammenhang von Erotik und Ästhetik und kommt zu dem vorläufigen Ergebnis: „Die erotischen Vorlieben (enthalten) bei jedem Menschen ebenso viel schöpferische Möglichkeiten wie die Palette des Malers, der Wortschatz des Dichters und die Tonarten, aus denen der Komponist wählt. (...) Es unterscheiden sich nur die Produkte und der Zweck.“ Stollers Essay könnte der Diskussion um sogenannte Perversionen neue Dimensionen eröffnen und dazu beitragen, die verschiedenen erotischen Vorlieben gleichwertig zu beurteilen.

Ich hätte mir gewünscht, daß die Sexualwissenschaftler ein wenig mehr von diesem Mut zur These in die Konzeption ihrer Zeitschrift eingebracht hätten. So ist dem Produkt immer noch das angestrengte Buhlen um Anerkennung anzumerken. Statt zu experimentieren und Diskussionen anzuregen, hält man sich an bewährte Strukturen. Warum dann aber eine eigene Zeitschrift? Die meisten der darin publizierten Aufsätze hätten auch an anderem Ort erscheinen können. Noch ist es den kritischen Sexualwissenschaftlern nicht gelungen, eine entsprechende wissenschaftliche Ausdrucksform zu finden. Aber vielleicht sind die Geburtswehen nun, nach einem Jahr, überwunden. Mit Margret Hauch und Sophinette Becker sind zwei jüngere Frauen in das HerausgeberInnenkollektiv eingetreten. Ein Neuanfang für ein neues Projekt?

Zeitschrift für Sexualforschung, Enke-Verlag, Stuttgart.