Doppelt fremd

■ Der Schriftsteller und Benjamin-Antipode Werner Kraft feiert in Jerusalem seinen 93.Geburtstag Maria Teresa Galluzzo sprach mit dem „Selbstdenker“

Werner Kraft, Autor von Worte aus der Leere (1937), Figur der Hoffnung (1955), Der Wirrwarr (1960), Spiegelung der Jugend (1973), Eine Handvoll Wahrheit (1977), geboren am 4.Mai 1896 in Braunschweig, 1933 mit Berufsverbot belegt, emigrierte über Stockholm und Paris nach Jerusalem, wo er seit 1934 lebt und seine wichtigsten zeit- und literaturkritischen Werke schrieb - anders als viele seiner KollegInnen allesamt in deutscher Sprache.

Galluzzo: Ist die Tatsache, daß Sie in Deutsch schreiben, Zeichen von noch immer mangelnder Assimilation, von Nostalgie, Heimweh, zu tiefer Verwurzelung im deutschen Denken?

Kraft: Schwer zu sagen. Hier gibt es viele Emigranten, Juden, die stärker assimiliert sind als ich, sprachlich voll in das hiesige Leben eingegliedert. Das hat seine Vor-, aber auch seine Nachteile, jedenfalls wenn man sich dann noch mit der deutschen Geisteswelt auseinandersetzen will. Literarisch ist meine Beziehung zu Deutschland daher für mich viel unproblematischer als für die meisten anderen, die ins hebräische Denken integriert sind, und bei denen man eher fragen sollte, warum sie sich dann nicht mit dem hebräischen Geist auseinandersetzen.

Das kann man, ich kenne genug Beispiele, auch unter meinen Freunden, die wie ich als erwachsene Menschen hierhergekommen sind und nun gute hebräische Dichter sind. Nostalgie nach Deutschland empfinde ich kaum: Wir hatten nur wenige nichtjüdische Freunde in Deutschland, und die jüdischen Freunde, die wir zurückließen, habe ich ich fast alle hier in Israel oder anderswo auf der Welt wiedergesehen. An die Zeit in Deutschland denke ich noch immer eher negativ zurück; meine Eltern waren, als ich emigirierte, schon lange gestorben, mein einziger Bruder im Ersten Weltkrieg gefallen - tragischerweise hier in Palästina, nahe Jerusalem.

Wenden wir die Frage nochmal um: Fühlen Sie sich hier zuhause? Sehen Sie dies hier als eine Art Heimat an, gerade als Jude, dem Volkes Meinung ja immer gerne nachsagt, er habe gar keine Wurzeln, keine Heimat?

Ich habe meine Kinder hier, meine Enkel, ob das schon eine Heimat ist, weiß ich nicht. Aber die Frage stellt nicht so sehr mein Problem dar. Mein Problem ist die schlechte Regierung, und ein Problem ist - ich komme zurück auf die deutsche Sprache -, daß ich hier, wo ich lebe, kein Publikum habe. Die Freunde, die mit mir hier herkamen, sterben mittlerweile weg, die Fremde, die wir damals als Neulinge hier im Land gemeinsam überwunden haben, kehrt irgendwie wieder zurück, während meine Bücher in Deutschland immer noch gut gelesen werden. Ich bin fremd, doppelt fremd: einer, der erst hier hergekommen ist, und einer, der aus einer Welt berichtet, die hier unbekannt ist oder von der man auch nicht gerne hört.

Hängt das mit der anderen Kultur hier zusammen oder mit der Tatsache, daß Sie über Deutsche schreiben?

Ich glaube nicht, daß das unbedingt mit der Tatsache zusammenhängt, daß ich deutsch und über Deutsche schreibe: im großen Ganzen schreibe ich ja über Juden. Sehen Sie, in meiner Arbeit bin ich von Anfang an immer wieder zentral auf Juden gestoßen, manche habe ich selbst entdeckt oder viel früher hochgeschätzt als die meisten, die sich heute dranhängen. Rudolf Borchardt oder Franz Kafka etwa; Karl Kraus hat mein Werk grundlegend bestimmt.

Man erkennt viel zu wenig den prägenden Eindruck der Tatsache, daß ich in Israel lebe, auf mein Werk; ganz sicher hat gerade dieses Nicht-mehr-in-Deutschland-Sein auch viele meiner Urteile mitgeprägt, auf jeden Fall wären manche meiner Arbeiten überhaupt nicht entstanden, wenn ich nicht von hier aus geschrieben hätte. Wirrwarr oder auch Welt aus den Fugen wäre ohne dieses Land hier nicht möglich gewesen. Aber diese Gespaltenheit macht ja vielleicht auch mein Werk aus.

Sie haben Titulierungen wie „Literat“, „Schriftsteller“, „Literaturwissenschaftler“ oder auch „Philosoph“ für sich immer zurückgewiesen; stattdessen haben Sie sich als „Selbstdenker“ definiert. Ein Ausdruck, den die deutsche Sprachwelt kaum kennt.

Trotzdem ist er schon recht alt. Ein Selbstdenker ist eine Art Mittelding: Er weiß, daß er kein Philosoph im engen Sinn ist, der die Welt zutiefst durchdringt, etwa im faustischen Sinne, der aber gleichzeitig das Bedürfnis spürt, in einer durchdringenden Art über die Dinge der Welt und vor allem des Geistes nachzudenken. Ansonsten, glaube ich, stehe ich dem Schriftstellertum und der Dichtung näher als der Philosophie. Allerdings heißt das nicht, daß ich mich in meinen Werken von Kritik an Philosophen fernhalte. Ich setze mich in Wirrwarr mit Marx auseinander, der meines Erachtens guten Glaubens geirrt hat - sein Fehler war zu denken, daß man die Macht des Geldes irgendwann wieder zurücknehmen könnte -. In „Spiegelung der Jugend“ beschäftige ich mich mit Heidegger, der ebenso wie Marx ein großer Geist war, aber in böser Absicht falsch redete. Ich spreche nicht nur von Teilen seiner Philosophie (die ich im Ganzen gar nicht beurteilen kann), sondern vor allem von seiner Art, sich an Hitler zu verraten.

In der Literaturgeschichte werden Sie gerne an der Seite von Walter Benjamin und dem Religionshistoriker Gershom Scholem genannt, beide einst Ihre Freunde, Benjamin später wohl nicht mehr. Wie kam es zu dem Bruch?

Es liegt mir sehr am Herzen, das ein für allemal zu klären. Benjamin und ich lernten uns in Berlin kennen, 1915, in einem Kreis von Juden, wo man über den Frieden diskutierte, und da stand jemand auf und hielt eine Rede, die ich als ungeheuer revolutionär empfand - Benjamin. Bei derselben Gelegenheit mischte sich auch Scholem ein - er 18, ich 19, Benjamin 23. Von diesem Moment an verband uns eine enge Freundschaft. Mit Scholem blieb sie für immer bestehen, mit ganz geringen und nur kurzzeitigen Irritationen. Mit Benjamin war das eine ganz andere Sache. Er hat die Beziehung zu mir abgebrochen, weil er offenbar Angst hatte, daß ich seinen Vorstellungen nicht mehr entsprach. Das hat mich damals fast zum Selbstmord getrieben, und ich habe dann alle seine Briefe an mich an ihn zurückgeschickt. Das ist aus heutiger Sicht sehr schade, denn sie sind damit unwiederbringlich verloren.

Wir haben uns dann in Paris wiedergesehen, nach 1933, ich habe ihm geschrieben, danach gab es einige Jahre, in denen wir einander geistig sehr nahe waren. Und dann kam der endgültige Bruch, den muß ich etwas umständlich erzählen. Der hängt mit der Entdeckung von Jochmann zusammen. Ich war so töricht, dessen Bücher nach Paris mitzunehmen und sie Benjamin zu zeigen; der war begeistert davon, und nun bekam ich Angst, daß er etwas darüber schreiben würde, und das Erstlingsrecht dazu wollte doch ich, als Jochmanns Entdecker, haben. Benjamin versprach also, nichts darüber zu schreiben. Doch dann geschah etwas sehr Dummes: Als ich Benjamin wiedertreffen sollte, lud der noch einen Herrn dazu ein, und da war ich beleidigt, daß er sich nicht für mich allein Zeit genommen hatte - und habe ihm einen Absagebrief geschrieben. Und er hat, ich weiß nicht, ob aus Rache oder weil er die Beziehung nun endgültig für beendet hielt, kurz danach einen Aufsatz über Jochmann geschrieben.

Und danach?

Habe ich nie wieder etwas von ihm gehört.

Benjamin war Marxist, Scholem Religionsphilosoph, Sie selbst werden sehr oft als „der“ Nihilist der deutschsprachig -jüdischen Literatur bezeichnet. Gern zitierte Stelle: „Auf dieser Welt noch Hoffnung haben / auf diese Welt noch Hoffnung haben / so mußt du leider traurig sein“. Wird Ihnen das Etikett „Nihilismus“ gerecht?

Ich freue mich, daß Sie das Thema aufwerfen. Nein, ich fühle mich ganz und gar nicht wohl damit. Ich war niemals der Meinung, daß meine Gedichte nihilistisch waren. Gerade an dieser Gedichtstelle wird deutlich, daß ich lediglich auf dieser - dieser! - Welt keine Hoffnung habe, während ich auf diese - diese! - Welt durchaus noch Hoffnung habe, wenn auch mit Trauer hoffe, daß sie einst anders wird. Keine Spur von prononciertem Nihilismus, keine Spur von Atheismus. In Figur der Hoffnung steht eine Stelle, die mir auch oft vorgehalten wird, ein Gedicht beginnt mit den Worten „Mein Gott der du nicht bist...“. Aber das heißt doch nur, daß er jetzt, im Augenblick, nicht ist, für mich nicht ist, aber es schließt in keiner Weise ein anderes, späteres, früheres Sein Gottes aus, auch für mich. Man muß eben solche Stellen, gerade in Gedichten, genauer lesen.

Sehen Sie, mein Leben hat nie den Aspekt der Hoffnungslosigkeit gehabt. Im Vergleich zu meiner gesamten Generation haben sich meine Lebensumstände sogar eher günstig und das heißt immer hoffnungsvoll entwickelt - wir haben Deutschland frühzeitig verlassen, wenigstens die engere Familie hat nicht gelitten, wir konnten zusammenbleiben und auch unter widrigen Umständen ein verhältnismäßig ruhiges Leben führen. Ich hatte es leichter, Hoffnung zu entwickeln als viele andere.

Aber ich habe andererseits, und das haben meine wenigen Leser eben offenbar eher empfunden, jene Gedanken, die nun als nihilistisch gelten, aus der Beurteilung der Lage der Menschen als solcher heraus entwickelt - aus den tiefen Depressionen in einer historischen Entwicklung, in einem Weltkrieg, während und nach dem das Böse sich in der gesamten Welt so schrecklich potenziert hat, daß längst nicht mehr nur die Deutschen alles auf ihrem Konto haben. Doch das Schlimme ist, daß nach alledem, was sich auch in den letzten Jahren und Monaten abspielt, viel von dem Geschehen auch in einem Land, das selbst so unter dem Bösen gelitten hat wie eben Deutschland, wiederholbar erscheint. Ich bin, ich sage es nochmal, kein Nihilist; doch die Tendenz der Welt, sich immer weiter nach unten zu entwickeln, ist unverkennbar.

Von Werner Kraft ist lieferbar: Der Chandos-Brief und andere Aufsätze über Hofmannsthal, Agora-Verlag, 18 DM; Erlesenes. In Gedicht und Prosa, Heusch-Verlag, 28 DM; Kleinigkeiten, Heusch-Verlag, 32 DM; Noch einmal Kafka (in Vorbereitung), Heusch-Verlag; Sechsunddreißig Zeitgenossen, Heusch Verlag, 22 DM; Späte Gedichte 1976-1983, Heusch-Verlag, 42 DM; Wahrheitsfetzen. Aufzeichnungen 1985-87, 58 DM; Goethe. Wiederholte Spiegelungen aus fünf Jahrzehnten, Text und Kritik, 38 DM; Heine der Dichter, Text und Kritik, 24 DM; Das Jahr des Neinsagers - Karl Kraus und seine geistige Welt, Text und Kritik, 29 DM; Karl Kraus. Beiträge zum Verständnis seines Werkes, Otto Müller, 28 DM; Österreichische Lyriker von Trakl zu Lubomirski. Aufsätze zur Literatur, Edition Rötzer, 33 DM; Stefan George, Text und Kritik, 36 DM; Gershom Scholem, Briefe an Werner Kraft, Suhrkamp Verlag, 38 DM.