Der Irak - das „arabische Preußen“

Staatschef Saddam Hussein spricht von Demokratisierung, doch an der Repression hat sich nichts geändert / In Bagdad ist die Überwachung der Bevölkerung total / Die Kurden haben unter dem Regime am meisten zu leiden - auch arabische Oppositionelle und selbst Mitglieder der Baath-Partei sind betroffen  ■  Aus Bagdad Robert Gegner

Seit einiger Zeit tönen die Propagandaorgane des irakischen Staatspräsidenten Saddam Hussein in ganz ungewohnten Stimmlagen. Da ist nun von „Demokratisierung“, „freien Wahlen“ und von der „Errichtung des Mehrparteiensystems“ die Rede. Dem kriegsmüden Volk wird mit dem Zauberwort „Privatisierung der Wirtschaft“ eine konsumorientierte Zukunft versprochen. Auch der unerträgliche Personenkult um den Diktator hat eine neue, zivile Note bekommen. Statt in Uniform zeigt sich Saddam immer häufiger mit Tirolerhut und Wanderstock im gediegenen Trachtenoutfit - Obersalzberg läßt grüßen. Über bloße Versprechungen hinaus ist im Land selbst jedoch nichts von einer Liberalisierung zu spüren. Der Polizeistaat am Golf gestaltet nur oberflächliche Schönheitsoperationen, um sein düsteres Image im Ausland aufzubessern.

„Hier hat jeder vor jedem Angst, die Spitzel sind überall“, erklärt ein junger irakischer Intellektueller in Bagdad im vertraulichen Gespräch. Das Klima umfassender Überwachung spürt auch der ausländische Besucher vom ersten Moment an. Die Herren in den dezenten Sakkos fallen bereits am Flughafen auf. In den Eingangshallen und Bars der Hotels, in den Restaurants und Geschäften sind sie wie zufällig da und haben scheinbar nichts zu tun. Undenkbar, hier einfach in eine Teestube zu gehen und eine lockere Unterhaltung zu führen. Kaum hat man sich gesetzt, nimmt jemand mit betont desinteressierter Miene am Nachbartisch Platz.

Doch auch Taxifahrer und Ladeninhaber haben hier gute Ohren, sobald im Gespräch ein irakischer Name fällt. Wofür hat ihnen der Staat schließlich auch die begehrte Lizenz gegeben? Die Bewegungsfreiheit wird dadurch eingeschränkt, daß es in diesem Land weder Stadtpläne noch Landkarten gibt. Sie sind verboten wie jede ausländische Presse, politische Oppositionspartei oder die freie Meinungsäußerung.

Tödliches Paragraphennetz

Was mit jenen passiert, die sich im engmaschigen Netz dieser Diktatur verstricken, enthüllen die Berichte von amnesty international. Im März meldete die Organisation erneut Folterungen und Erschießungen von Kindern, deren Väter aus der Armee desertiert oder ins Ausland geflohen waren. Was nach Zeugenberichten in den Gefängnissen Abu Ghraib und Fadulya geschieht, liest sich wie aus dem Handbuch des Folterknechts. Vom Herausreißen der Fingernägel wird ebenso berichtet wie vom sexuellen Mißbrauch kleiner Kinder. Da jede organisierte politische Opposition längst ausradiert worden ist, sind neben den Kurden inzwischen meist Armeeangehörige oder Mitglieder der herrschenden Baath -Partei und ihre Familien vom Terror betroffen. Saddam Hussein räumt auch in den eigenen Reihen auf.

Im Irak, der bei US-Amerikanern den Spitznamen „das arabische Preußen“ trägt, hat freilich auch die Unterdrückung ihre Ordnung. Wer „öffentlich den Staatspräsidenten, seinen Stellvertreter, den revolutionären Kommandorat, die sozialistische arabische Baath-Partei, die Nationalversammlung oder die Regierung beleidigt“, wird mit lebenslänglicher Haft oder Todesstrafe bedroht, hat der Diktator in der Resolution Nr. 840 vom 4.11.1986 festgelegt. Laut Resolution Nr. 960 steht auch ganz pauschal „die Zusammenarbeit mit dem Ausland oder seinen Agenten“ unter Todesstrafe. Ähnliches gilt im Falle von „Verbrechen gegen das Gemeinwohl“ oder freier Meinungsäußerung „gegen die Linie der Revolution und der Baath-Partei“ (Artikel 164).

„Hier sind Straftatbestände derartig weit gefaßt, daß fast jede menschliche Verhaltensweise darunter fallen kann“, kommentiert ein Diplomat in Bagdad das tödliche Paragraphennetz, das an die Gleichschaltung der Justiz im Dritten Reich erinnere. Da verwundert es nicht mehr, daß Hitlers Mein Kampf das meistgelesene deutsche Buch im Irak ist. Saddam Hussein bezeichnet es als das für ihn wichtigste Werk neben dem Koran.

Unvergleichlich mehr als die arabische Bevölkerung haben die einstmals vier Millionen Kurden des Landes unter dem Regime zu leiden. Sie sind keine Araber und haben im Irak zumindest auf dem Papier gewisse Selbstbestimmungsrechte in der sogenannten „Autonomen Region Kurdistan“ im Norden des Landes. Tatsächlich jedoch betreibt Saddam Hussein seit Jahren eine konsequente Assimilierungspolitik, die auch über Leichen geht.

Zerstörte Dörfer in Kurdistan

Schon während des Golfkrieges, als die kurdischen Peschmerga -Freiheitskämpfer mit taktischer Unterstützung der Iraner ihre Unabhängigkeit erzwingen wollten, wurden - Schätzungen zufolge - bis zu mehrere Hunderttausend kurdische Familien in die Wüsten an der jordanischen Grenze deportiert. Vor den Giftgasangriffen der irakischen Armee auf Bergdörfer waren im vergangenen Jahr 100.000 Menschen in die Türkei geflohen. „Das waren die Iraner, warum hätten wir unsere eigenen Leute vergasen sollen?“ gibt Generaldirektor Al-Mukhtar vom Bagdader Informationsministerium inzwischen die neue irakische Lesart dieser Ereignisse aus.

Nach dem Waffenstillstand im Golfkrieg hat Saddam zwei Drittel seiner starken und hochmodernen Armee in die kurdischen Nordprovinzen des Landes verlegt. In der Stadt Erbil beispielsweise war Anfang April die massive Militärpräsenz unübersehbar. An jeder Straßenkreuzung standen Patrouillen vor Schlagbäumen oder hatten sich hinter gemauerten Brustwehren postiert. Der Altstadtkern, der bei den Kämpfen vor drei Jahren zerstört wurde, ist nicht wieder aufgebaut worden. Hier hausen die verbliebenen Kurden meistens Frauen, Kinder und ältere Leute - in Dreck und Armut. „Man darf sich eben einfach keine Gedanken darüber machen, wo jene Männer geblieben sind, die noch hätten Widerstand leisten können“, meint ein deutscher Techniker aus Mosul, der mit seiner Familie zum Wochenendausflug nach Erbil gefahren ist. „Im Vergleich zu früher ist es hier jetzt sehr ruhig.“

Warum das so ist, wird auch beim Hubschrauberflug über die kargen Berge Kurdistans klar. In der Provinz Dohuk etwa fallen immer wieder Trümmerfelder auf: ehemalige kurdische Dörfer, die von der irakischen Armee mit Dynamitladungen zerstört wurden. Der Verbleib der Bevölkerung ist unklar. Sind die Menschen in den Iran oder in die Türkei geflohen? Wurden sie in die gut bewachbaren Barackensiedlungen der Ebenen umgesiedelt? Sind sie einfach umgebracht worden? Der irakische Provinzgouverneur von Dohuk jedenfalls weiß auf die Fragen der ausländischen Journalisten keine Antwort und verliert sich in widersprüchliche Ausflüchte, die seinen Übersetzer ins Schwitzen bringen.

Der Amnestie vertraut niemand

Die Tragödie der Kurden ist jedoch ein irakisches Problem. Im Iran und in der Türkei werden die Kurden nicht besser behandelt. Ohne internationale Unterstützung bleibt auch fraglich, ob es ihnen im Irak unter einem Nachfolger Saddam Husseins anders ergehen würde als heute.

An die verlockenden Amnestieangebote des Diktators an kurdische Flüchtlinge und arabische Oppositionelle im Ausland - das letzte vom 1.April - glaubt jedenfalls niemand mehr. Zu oft hat man gehört, daß Rückkehrer plötzlich verschwunden sind. Der kanadischen Botschaft in Bagdad ist beispielsweise der Fall eines jungen Irakers bekannt, der noch in den letzten Kriegstagen auf ein Amnestieangebot hin aus Kanada in den Irak geflogen war. Er wurde zwar nicht verurteilt, ist jedoch zu einem Himmelfahrtskommando an die Front geschickt worden und nie mehr aufgetaucht.

Entgegen den Liberalisierungsparolen Saddams schätzen junge irakische Intellektuelle gerade die momentane Situation im Land als besonders schwierig ein. „Der Krieg hat viele primitive Typen hier in die falschen Positionen gebracht“, heißt es unter ihnen. In Friedenszeiten würden nun die dadurch geschaffenen Konflikte erst richtig zu Tage treten. Dennoch hoffen diese jungen Iraker, daß sich im Laufe des Jahres manches bessert - ohne jedoch einen Grund dafür angeben zu können. „Unter Saddam Hussein und seinem Clan wird es nie so etwas wie Demokratie geben“, lautet dagegen die Einschätzung eines altgedienten westlichen Diplomaten in Bagdad. Und ziemlich desillusioniert fügt er hinzu: „Ein Menschenleben ist in diesem Land nach wie vor nicht halb so viel wert wie ein guter Gebrauchtwagen.“