Estlands KP warnt vor Nationalismus

Estnische Bürgerkomitees setzten die bei den Wahlen erfolgreiche Volksfront unter Druck / Die Volksfront soll weitergehende Forderungen in der Autonomiefrage aufstellen / Estnische Staatsbürgerschaft angepeilt / Russen spekulieren über Eingreifen der Armee  ■  Von Erich Rathfelder

Berlin (taz) - „Russen raus„-Parolen gibt es zwar erst vereinzelt, doch in Estland zeichnen sich schärfere Auseinandersetzungen zwischen den mit 64 Prozent die Gesamtbevölkerung dominierenden Esten und den vor allem aus Rußland kommenden Einwanderern ab. Schuld daran sind nach Meinung des Parteichefs der Republik, Vaino Valyas, vor allem die Bürgerkomitees, die zunehmend radikalere Forderungen stellen und immer mehr Einfluß auf die Volksfront erlangten. Auf der Parteivollversammlung (ZK -Plenum) am Donnerstag verurteilte der Parteichef die „Erklärung zur Selbstbestimmung“, die von der Volksfront am vorigen Samstag unter dem Druck der Bürgerkomitees angenommen wurde. Danach sollen die Autonomierechte der Republik wesentlich ausgeweitet werden. In scharfem Ton prangert die Volksfront in der Erklärung die Ungesetzlichkeit des Stalin-Hitler-Pakts vom 23. 8. 1939 an, in dessen Zusatzprotokollen die gewaltsame Angliederung der drei baltischen Staaten an die UdSSR vereinbart worden war. Am 6. August 1940 waren die sowjetischen Truppen vorgerückt und hatten der selbständigen Republik Estland ein Ende gesetzt.

Schon lange wird die Legitimation der Sowjetmacht in den baltischen Ländern von Oppositionellen in Frage gestellt. Doch seit dem Aufkommen der Volksfront im Frühjahr vergangenen Jahres, mit ihrem Aufstieg zur Massenorganisation und ihrem Erfolg bei den Wahlen zum Obersten Sowjet Ende März wird öffentlich über die Geschichte diskutiert. Für viele Esten, aber auch Letten und Litauer - dort verläuft ein ähnlicher Prozeß - haben die Volksfronten bisher eine zu kompromißbereite Politik vertreten. Schon der hohe Stimmenanteil von als „Nationalisten“ verketzerten Kandidaten bei den Wahlen im März hatte aufhorchen lassen.

Die Bürgerkomitees, die in Estland erst in den vergegangenen Wochen hervorgetreten sind, verfechten eine radikale Position. Sie wollen einen „Kongreß der Bürger Estlands“ einberufen, der nur den Esten vorbehalten sein soll und die Zuwandererbevölkerung ausschließt. Dieser Kongreß soll den gegenwärtigen Republik-Sowjet ablösen. Damit zielt die Kampagne auf eine estnische Staatsbürgerschaft, deren Inhaber allein über die Geschicke des Landes zu befinden haben. Souveränität, wirtschaftliche Selbstverwaltung und Vetorecht gegen die Moskauer Gesetzgebung sind weitere Forderungen, die einen breiten Konsens bei der estnischen Bevölkerung haben. Bei dieser vielleicht als „national-demokratisch“ zu bezeichnenden Bewegung wird an eine eigene Währung, die Wiederzulassung von Privateigentum und eigenständige Beziehungen zu den Nachbarn Finnland, Schweden und Dänemark gedacht.

Kein Wunder also, wenn die Kommunisten unruhig werden. Immerhin ergab eine von Finnland aus organisierte Umfrage, die am letzten Mittwoch veröffentlicht wurde, nur noch einen Stimmenanteil von 16 Prozent für die KP. Als „Realisten“, die auf den behutsamen Ausbau der Autonomierechte achten wollen, fürchten die Kommunisten nun schärfere Reaktionen aus Moskau. Und keineswegs übersehen sie die Unruhe, die sich unter der Einwanderungsbevölkerung entwickelt hat. Auch die Interfront, die Gegengründung der russischen Einwanderer zur Volksfront, ist aktiv geworden. Und in den Reihen der Interfront wird schon nicht mehr nur unter vorgehaltener Hand mit dem Eingreifen der Armee spekuliert.

Wie die Partei, so hat sich auch das Präsidium des Obersten Sowjet der Republik mit den neuen Bürgerkomitees befaßt und sie in einer Erklärung vom 20. April als verfassungsfeindliche Gruppierung eingestuft, die mit „ihrer unverantwortlichen Haltung die Errungenschaften gefährdeten“, die für die Esten für ihre nationale Souveränität schon erreicht worden seien. Aber: Auch die Interfront wurde von diesem Gremium als „extremistisch“ verurteilt.

Dagegen will die Volksfront, in deren Reihen sehr viele Parteimitglieder mitarbeiten und die eine Sammlungsbewegung für alle Strömungen in der estnischen Gesellschaft darstellt, eine Konfrontation mit den Bürgerkomitees vermeiden. „Dies hätte nur den Effekt, den Komitees noch mehr Zulauf zu verschaffen“, verlautete aus ihren Führungskreisen. Am Samstag voriger Woche beschloß der 106köpfige Rat der Volksfront denn auch, den Dialog mit der Unabhängigkeitsbewegung weiterzuentwickeln. Auch die Volksfront ist nun dafür, ein estnisches Melderegister anzulegen, um einen Konsultativ-Kongreß zu bilden. Im Unterschied zu den Vorstellungen der Bürgerkomitees soll der Republik-Sowjet aber weiter bestehen bleiben.

Lettisch wird Staatssprache

In der von nur noch 53 Prozent Letten bewohnten Nachbarrepublik Lettland hat Lettisch wieder gute Aussichten, Staatssprache zu werden. Nachdem schon in Litauen und in Estland Litauisch und Estnisch zu Staatssprachen geworden sind, billigte nun die KP Lettlands ein ähnliches Sprachengesetz.