„Im Interesse der Ordnung ist alles erlaubt“

Die Beerdigung des 1.-Mai-Demonstranten Dalci endete blutig / Polizisten schossen willkürlich in die Menge und schlugen Journalisten krankenhausreif / Während die Regierung die Vorfälle bagatellisiert, fordert die Opposition den Rücktritt des Innenministers  ■  Aus Istanbul Ömer Erzeren

„Schlagt die Kommunisten, wo ihr sie trefft.“ „Nehmt ihre Hirne auseinander.“ „Scheißt ihnen in den Mund, den Journalisten.“ Begleitet von solchen Polizeifunksprüchen, die gestern in den türkischen Tageszeitungen veröffentlicht wurden, hat die Polizei am Donnerstag gewaltsam den Begräbniszug von Mehmet Dalci auseinandergetrieben. Dalci war während der 1.-Mai-Demonstrationen in Istanbul erschossen worden. Auch sein Begräbnis endete blutig. Rund 4.000 Menschen waren zum letzten Gebet in der Moschee Zincirlikuyu erschienen. Der Sarg des Toten wurde von Polizisten entführt und direkt zum Friedhof gefahren. Der Versuch der Menge, von der Moschee zum Friedhof zu ziehen, wurde verhindert. Nach Augenzeugenberichten schossen wiederum einzelne Polizisten in die Menge. Holz- und Gummiknüppel besorgten den Rest. Journalisten und Fotoreporter, die kritisch über den 1.-Mai-Einsatz der Polizei berichtet hatten, wurden aus der Menge herausgepickt und „Sonderprügeln“ unterzogen. Die türkischen Zeitungen veröffentlichten lange Listen ihrer Mitarbeiter, die mit Knochenbrüchen und Gehirnerschütterungen in den Krankenhäusern behandelt werden. Über die Zahl der Verletzten und Verhafteten - es soll sich um Hunderte handeln - gibt es keine genaue Auskunft.

Mit großformatigen Fotos der zu Krüppeln geschlagenen Kollegen zogen in Istanbul rund 1.000 Journalisten am Freitag morgen vor die Präfektur. Eine Delegation der Zeitungsverleger und des Journalistenverbandes überreichte dem Präfekten die Tonbandmitschnitte des Polizeifunks sowie Bildmaterial vom Vorgehen der Ordnungskräfte Polizistenhorden brechen Journalisten die Knochen. Die Kollegen in Ankara wählten eine andere Form des Protests. Sie zogen vor den Ministerpräsidentenpalais und warfen ihre Kugelschreiber auf die Treppenstufen des Gebäudes.

Der Mord vom 1. Mai und die Brutalität während des Begräbnisses haben zum schwersten innenpolitischen Konflikt seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Özal geführt. „Bei solchen Geschichten gibt es halt Tote und Verletzte“, kommentierte Özal das gewalttätige Vorgehen der Polizei. „Schauen Sie sich Israel und Korea an. Auch dort wird geprügelt. Als ich Frankreich besuchte, demonstrierte dort eine linksextreme Gruppe. Die Polizei hat sie sehr schön verprügelt.“ Er beschuldigte die türkischen Medien wegen der Berichtserstattung zum 1. Mai. „Warum schreibt ihr darüber, wenn es die Beziehungen zur EG belastet?“

Die sozialkdemokratische Opposition und die großen Tageszeitungen fordern den Rücktritt von Innenminister Abdülkadir Aksu. Die Sozialdemokraten haben eine parlamentarische Untersuchung in der Nationalversammlung angekündigt. Die Staatsanwaltschaft Beyoglu/Istanbul hat ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes an dem 18jährigen Demonstranten eingeleitet. Da die Kugel den Kopf durchlöcherte und nicht gefunden wurde, sei die Pistole, aus der geschossen wurde, nicht zu ermitteln. Doch mit Ministerpräsident Özal im Rücken legitimieren die Verantwortlichen den Polizeieinsatz.

Der Istanbulder Polizeipräsident, Hamit Ardali, der das Massaker vom 1. Mai verantwortet, rühmte sich, verhindert zu haben, daß „rote Fahnen auf dem Taksim-Platz wehen“. Der stellvertretende Vorsitzende von Özals regierender Mutterlandspartei, Galip Demirel, schockierte auf einer Pressekonferenz sein Auditorium, als er die Todesschüsse auf wehrlose Demonstranten rechtfertigte. „Sultan Mehmed, der Eroberer (osmanischer Herrscher im 15. Jahrhundert) hat folgendes Gesetz erlassen: 'Im Interesse der öffentlichen Ordnung ist der Brudermord heilig.‘ Er hat gut daran getan. D.h. im Intersse des Staates ist das Töten des Bruders gerechtfertigt und wichtig wie ein Befehl Allahs. Im Interesse der öffentlichen Ordnung ist alles erlaubt. Wenn der eigene Bruder sich gegen die staatliche Ordnung auflehnt, darf er getötet werden.„%%