„Ein neues Kapitel aufschlagen“

Nicaraguas stellvertretender Staatspräsident Sergio Ramirez zu den Beziehungen mit der BRD  ■ I n t e r v i e w

taz: Hat die Westeuropareise von Daniel Ortega eher politische oder eher wirtschaftliche Motive?

Ramirez: Für Nicaragua kann es keinen politischen Fortschritt ohne wirtschaftliche Stabilität geben. Als Folge des Krieges stecken wir in einer tiefen Wirtschaftskrise. Nun sind wir Westeuropa gegenüber diplomatisch immer sehr aktiv gewesen. Ich selbst bin mindestens 15mal, der Präsident ist vier- oder fünfmal dorthin gereist. Diese Reise geht nun zum ersten Mal in alle wichtigen Länder der Region. Ihr politisches Ziel ist, darzustellen, welche Fortschritte in Nicaragua die Konsolidierung der Demokratie, die innenpolitischen Vereinbarungen und die Erfüllung unserer Verpflichtungen aus dem zentralamerikanischen Friedensplan gemacht haben - das sind zum Beispiel die gerade verabschiedeten Reformen von Wahl- und Mediengesetz. Gleichzeitig versucht die Reise, die Sensibilität der Europäer für die wirtschaftlichen Probleme Nicaraguas zu schärfen.

Welche Erwartungen haben Sie speziell an Ortegas Besuch in der konservativ regierten Bundesrepublik Deutschland?

Daß es da Spannungen gegeben hat, weiß jeder. Wir haben aber gerade gegenüber Westeuropa immer versucht, die Beziehungen nicht von der politischen Richtung der jeweiligen Regierung abhängig zu machen. In diesem Sinn versucht Präsident Ortega mit seiner Reise, ein neues Kapitel zwischen Nicaragua und der Bundesrepublik aufzuschlagen. Als ich selbst im vergangenen Oktober in Bonn war und sowohl mit Außenminister Genscher als auch mit den Vertretern der Parteien geredet habe, konnte ich Anzeichen von Entspannung beobachten - ich sehe da eine neue Perspektive. Daß jetzt die Reise von Staatspräsident Ortega stattfindet, ist auch ein Zeichen dafür.

Am 19. Juli wird die nicaraguanische Revolution zehn Jahre alt. Wieviel läßt sich in zehn Jahren lernen?

Zuallererst haben wir gelernt, uns zu verteidigen, keine Angst vor den Folgen unserer souveränen Entscheidung zu haben. Unsere Selbstsicherheit, das Nationalbewußtsein ist schneller gereift als erwartet leider, muß ich sagen, durch den Krieg. An der gesellschaftlichen Umgestaltung haben wir dagegen noch viel zu arbeiten.

Zum Beispiel?

Die Agrarreform braucht eine solidere Grundlage. Es geht nicht nur darum, Land zu verteilen; auch Organisation und Technologie müssen Fortschritte machen. Oder die unterbrochene Alphabetisierung. Nach der Kampagne von 1980 hatten wir die Analphabetenrate von 60 auf 12 Prozent gesenkt - heute sind es wieder 18 Prozent.

Jörg Haffkemeyer/Michael Rediske