Haftstrafe gegen Arzt von Memmingen

Das bayerische Urteil gegen den Arzt Theissen: Zweieinhalb Jahre Haft / Richter stellt Urteil als Antwort auf das NS-Regime dar / Auch drei Jahre Berufsverbot wegen der Abtreibungen / Für das Gericht läßt sich die Notlage einer Frau juristisch überprüfen  ■  Aus Memmingen G.Schöller

Das Grundgesetz mußte gestern in Memmingen herhalten, um das harte Urteil gegen den Frauenarzt Horst Theissen zu rechtfertigen. Zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe sowie drei Jahre Berufsverbot nach Paragraph 218 lautete der Spruch des Landgerichts. Und die Begründung: Die Höhe der Strafe sei angemessen, weil in unserer Verfassung in bewußter Abkehr vom menschenverachtenden NS-Regime der Schutz der Menschenwürde an die erste Stelle gesetzt worden sei. So der Vorsitzende Richter Barner bei der Urteilsbegründung.

Das Memminger Gericht hält Theissen für schuldig, in insgesamt 79 Fällen illegal abgetrieben zu haben. Damit ist Theissen in allen Fällen schuldig gesprochen, wegen derer er auf der Anklagebank saß. Denn die Staatsanwaltschaft hatte von den ursprünglich 156 Fällen vor kurzem 77 Fälle eingestellt, um das Verfahren bald beenden zu können. Entscheidend ist jedoch, nach welchem Paragraphen Theissen jeweils verurteilt wurde. In 36 Fällen, so das Gericht, habe er ohne Indikation abgetrieben - deshalb hier ein Urteil nach Paragraph 218. In 39 Fällen habe zwar eine Notlage vorgelegen oder „die Annahme einer Notlage war subjektiv vertretbar“, aber Theissen habe abgetrieben ohne Indikationsstellung durch einen anderen Arzt und ohne daß die Frau bei der Sozialberatung gewesen sei. In diesen Fällen wurde er nach den Paragraphen 218b und 219 schuldig gesprochen: jeweils ein Monat Freiheitsentzug. Schließlich wurden Theissen vier Fälle zur Last gelegt, in denen er den Frauen fahrlässig unwahre Angaben geglaubt habe, aber - nach Überprüfung durch das Gericht - dennoch objektiv eine Notlage gegeben gewesen sei.

Mit diesem Urteil haben sich Richter zum ersten Mal angemaßt, ungewollt schwangeren Frauen im nachhinein deren Notlage abzuerkennen. Nach Richter Barner gibt es „keinen Grund für Richter zum Fortsetzung auf Seite 2

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Rückzug vom Paragraphen 218“. Zwar anerkenne ein Teil der Bevölkerung den Wert des werdenden Lebens nicht mehr und sehe einen „rechtsfreien Raum“ durch die Bestimmung, daß die Indikation nach dem Wortlaut des Paragraphen in ärztlicher Erkenntnis festgestellt werden müsse. Aber, so Barner, „es kann nachgeprüft werden, ob die Feststellung der Notlage nach ärztlicher Erkenntnis angemessen war“.

Der Richter gestand dem Arzt allerdings zu, daß man von ihm nicht erwarten könne, die Angaben der Frau bei Behörden und Verwandten nachzuprüfen. Auch hielt er den Vorschlag der Staatsanwälte, die Frauen könnten ein Kind doch zur Adoption freigeben, für nicht angemessen.

Strafmildernd für den Angeklagten wirkte sich aus, daß er sich in langen Gesprächen viel Zeit für die Frauen genommen hatte. Richter Barner charakterisierte ihn als „ein bißchen liberal, ein bißchen anthroposophisch, ein bißchen anarchisch, ein bißchen esoterisch und ein bißchen kaufmännisch“ und gestand ihm auch zu, daß er medizinisch sehr gut gearbeitet habe.

Strafverschärfend sei allerding die

„Ignoranz“, mit der Theissen der Sozialberatung begegnet sei. Er habe sich nur nach dem Willen der Frau gerichtet und damit faktisch die Fristenlösung praktiziert. In keinem Fall habe er den Frauen klar gemacht, daß es abzuwägen gelte zwischen dem Wert des werdenden Lebens und ihrer Selbstbestimmung. Auch habe der Arzt die Abtreibungen gewerbsmäßig betrieben.

Dann hakte Barner im Schnellverfahren jeden einzelnen der 79 Fälle ab und erläuterte kurz das Strafmaß. Keine Notlage erkannte das Gericht zum Beispiel im Fall einer 19jährigen Servierin. Sie war nach einer flüchtigen Bekanntschaft schwanger geworden und hatte außerdem angeben, ein Kind könne sie mit ihrer Arbeit nicht vereinbaren, da sie im Schichtdienst arbeitete. Weil ein Kind, das sie später bekam, bei ihren Eltern versorgt wurde, urteilten die Richter: „Keine Notlage“ - drei Monate Strafe. Eine Notlage erkannten sie dagegen im Fall einer anderen jungen Frau, „die von ihrer Mutter nichts zu erwarten hatte“ und mit einem Kind auf Sozialhilfe angewiesen gewesen wäre. Damit wurde Theissen in diesem Fall nach Paragraph 218 nicht schuldig, nach den Paragraphen 218b und 219 jedoch schuldig gesprochen, da die Frau den Instanzenweg nicht einhielt.