Scheibengericht: 40 Jahre Bundesrepublik / Hector Berlioz / Norbert Jürgen Schneider / Swamp Music / J.S.Bach / Hans Werner Henze / A.N.P. / Franz Joseph Haydn / Rainbirds / Acrid Acme / Satie

Montag, 8.5.8915 o 40 JAHRE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND:

Jubiläumskonzert. Die Lieblingsmelodien des ersten Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer. Antonio Vivaldi: Die vier Jahreszeiten. Der Frühling. Der Herbst. Wolfgang Amadeus Mozart. Konzert für Klavier und Orchester F-Dur. Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 3 „Rheinische“. Philips 2LP 426 125-1

Schwarz-rot-golden umrahmt wird die handgeschriebene Weisheit des Indianerhäuptlings überliefert: „Musik ist so verschiedenartig wie die Menschen. Aber gute Musik wirkt doch auf jeden Menschen ein: klärend, erfreuend und erhebend. Adenauer“. So, wie die „Lieblingsmelodien“ des ersten Bundeskanzlers hier interpretiert sind, haben sie bei mir ein herzhaftes Gähnen ausgelöst. Und das ist Majestätsbeleidigung. Denn Adenauer hat die Musikauswahl dieses Albums 1966 persönlich zusammengestellt. Bei den Aufnahmen, die er posthum ausgewählt hat (die Pastorale wurde 1975 eingespielt, die Vier Jahreszeiten 1982), hat er es allerdings an Großherzigkeit fehlen lassen: Von Vivaldi mochte er nur den Frühling und den Herbst, von Beethovens Sechster nur die beiden ersten Sätze. Geiz und Mediokrität zum Jubiläum. Das haben wir nicht verdient. Jedes der favorisierten Orchesterwerke ist in weit besserer Qualität erhältlich. Und Adenauer ist tot. o DIE FORM:

Photogrammes. Normal 106/RTD L5-206

Unter dem metallischen Klirren der elektronischen Industrieperkussion, düsteren Bässen, Glockenspiel-Kling -Klang und einer Frauenstimme, die immer wieder dieselbe Phrase singt, breitet sich die Schattenwelt des gepflegten Schmerzes aus, die Evokation der Todesnähe, die genußvoll zelebrierte Morbidezza. Der Franzose Philippe Fichot, der mit Raubtierstimme die süße Qual kultiviert („Vergebung! Stirb!“), erfand und inszenierte das dekadente Ritual nicht ohne FORM-Fehler. Zu oft vertraut er dem Selbstlauf der schlichten Patterns und zerreibt das Artefakt. „Mir ist kalt bis zum Kern der Nieren, als der Schleier sich plötzlich färbt, gebe ich mich deinen Seelenschmerzen hin. Die Unbefleckte.“ High-Tech-Jugendstil. o HECTOR BERLIOZ:

Symphonie fantastique, op. 14. The London Classical Players, Roger Norrington. EMI Reflexe CD C 7 49541 2

Roger Norrington nimmt es peinlich genau: Originalinstrumente in Originalbesetzung, also keine Harfen, neben Kornetts Naturtrompeten, neben Posaunen Orphikleiden (um 1800 aus dem Serpent entstanden und bald von der Tuba abgelöst), das Ganze mit dem Kammerton a435 und unter Einhaltung von Tempovorschriften. Wer die Sinfonie von den einschlägigen Aufnahmen der Vergangenheit kennt, wird hier einiges vermissen: die forcierte Eleganz des Walzers, die prätentiöse Lyrik in der Szene auf dem Lande, das ungestüme Drängen zum Richtplatz (hier ist es tatsächlich ein Marsch) und das Accelerando im Finale, - kurz, die romantische Überhöhung. Er bekommt dafür eine Palette nach wie vor neuartiger, klar voneinander abgesetzter Klangfarben und spieltechnischer Effekte, deren Komposition nach jeder „modernen“ Veredelung ihre Brisanz verliert. o NORBERT JÜRGEN SCHNEIDER:

Herbstmilch. Filmmusik und Hörstück zum Film. Milan/Ariola Aris CD CH 047/RC 650/D-883 143-907

Für den Film von Joseph Vilsmaier hat Norbert Jürgen Schneider etwa zwei unauffällige Themen komponiert, die durch alle Takes variiert werden. Dazu hört man den Kuckuckswalzer und „Musik aus dem Volksempfänger“: Passauer Reservisten, Soldatenheimat und links, zwei, drei, vier. Weil das aber so oder so zu wenig für eine CD gewesen wäre, hat man aus Tonbandaufzeichnungen von Gesprächen mit Anna Wimschneider (die den Roman „Herbstmilch“ schrieb) und Albert Wimschneider eine Kurzfassung des Films als Hörstück zusammengestellt, das über 23 Minuten lang ist und im allgemeinen sinnvoll, wenn es darum geht, Filmmusikplatten anzureichern. Im besonderen aber, nämlich hier, ist durch Unterlegung und Einfügung obiger Filmmusik als Zwischenspiel zu den Erzählungen vom Tod der Mutter, dem Kochenlernen und Waschen, vom Rendevous mit Schweinswürstel und Kraut und vom Fensterln ein niederes Rührstück geworden, das alle Offenheit und Sensibilität der Wimschneiders an den Kitsch verrät. o SWAMP MUSIC Vol. I, II, III.

Trikont US-0156/0157/0158. EfA 09-0156/0157/0158

Swamp Music, das ist Sumpf-Musik, im Süden von Louisiana die Bezeichnung für die Musik französischer Flüchtlinge, die sich in den Sümpfen und der Prärie mit anderen Kulturen vermischten und mit Geige, Bandoneon/Knopfharmonika und Gitarre Tanzmusik singen und spielen, die sie Cajun nennen, oder in der schwarzen Variante Zydeko. Die drei Platten (Le Flemmes d'Enfer-Flames of Hell, Best of Cajun und Zydeko Tradition/Jewels of Cajun Music, Down Home Music from South Louisiana/Kings of Zydeko, Black Creole Music from the Deep South) bilden die Anthologie dieser mündlichen Kultur, die in der amerikanischen Enklave so beharrlich wie eigenwillig fortlebt: eine schräge und lärmende Musik, deren Texte kaum zu verstehen sind. Aber ich weiß zu wenig davon und überlasse die Wertung kompetenteren Leuten. o J.S.BACH:

The Brandenburg Concertos. Orchestra of the Age of Enlightenment. Virgin Classics VCD 7 90747-2/353 451-238

Kein Dirigent? Umso besser. Die Frauen des Orchesters haben die Sache in die Hand genommen: Catherine Mackintosh (1), Monica Huggett (2, 4, 6), Alison Bury (3) und Elizabeth Wallfisch (5) haben die aufregendsten „Brandenburgischen Konzerte“ eingespielt, seit vor 20 Jahren Nikolaus Harnocourt mit dem Concentus musicus Wien Bach auf die barocken Füße stellte. Gleich zu Beginn fallen die Hörner auf, die sich nicht ins Orchester ducken, sondern selbstbewußt ihre Gegenstimmen ins polyphone Gewebe einziehen; dann das ungewöhnlich hohe Tempo im Allegro des dritten Konzertes oder das virtuose Cembalo-Solo im ersten Satz des fünften - es gibt hundert bemerkenswerte Details, die das Ganze zu einer außergewöhnlich lebendigen, unmittelbar „sprechenden“ Musik machen. Sicher sind die „Brandenburgischen Konzerte“ über tänzerischen Metren sehr nahe an menschliche Sprachgestik komponiert. Das „Orchestra of the Age of Enlightenment“ hat ihnen den Ausdruck einer starken Persönlichkeit verliehen. o RAINBIRDS:

Call me easy/say I'm strong/love me anyway/it ain't wrong. Mercury/Phonogram/PMV 838 176-1

Das ist nach den Regeln der Kunst professionell gemacht und da interessant, wo die Berliner vom goldenen Pfad der Dekadenz abweichen, denn die macht alle Ambitionen zu Makulatur. Geglückt ist das in „Better than before“, das den Songs von Kurt Weill nachempfunden ist. Da liefert der lakonische Tonfall der Musik den Grund und Boden für den realistischen Text (we don't change anyway) und balanciert die anstehende Entscheidung aus: sich dreingeben oder sich selbst retten. Aber die intonationssichere Flatterstimme der Komponistin Katharina Franck schafft es auch, harmonisch enger gefaßte (Nowhere to go) Lieder und solche ohne großes Wagnis (Moon) unpathetisch zu beseelen. o HANS WERNER HENZE:

La Cubana oder Ein Leben für die Kunst. Vaudeville in 5 Bildern nach Motiven von Miguel Barnet. Text: Hans Magnus Enzensberger. Hörfunkfassung. Wergo 2CD WER 60129/30-50

„Reg Dich doch nicht auf, Du Dummkopf“, sagt die gealterte karibische Schönheit Rachel zu ihrem Dienstmädchen. „Das ist bloß eine Revolution.“ Und auf die Frage „Gnädige Frau, was glauben Sie? Werden wir erschossen?“ antwortet sie: „Selbstverständlich. Und Du kommst als allererste dran.“ Enzensbergers Text ist bewundernswert präzis, die Besetzung vorzüglich (Anja Silja, Berta Drews, Eberhard Büchner, Sylvia Anders, Brigitte Mira, Günter Reich, Otto Sander), Henzes Musik distanziert parodistisch, gekonnt schäbig, gezielt „als ob“. Das Stück über die Theaterdiva, die aus der Battista-Diktatur in die kubanische Revolution hineinlebt, schien ihm „kalt und robust und so herzlos, wie man es nur wünschen konnte“. Der Hamburger Chor und das Kammerorchester Ensemble Hinz&Kunz Nachf. unterstützen mit sicherem Gespür für die Herzlosigkeit, und Manfred Marchfelder, der das Vaudeville für den WDR realisierte, läßt den Wunsch nach einer szenischen Fassung nicht aufkommen. o A.N.P.:

Killsonic Action. Dossier ST 7542/EfA 08-05 842

Wer dachte, der musikalische Punk hätte sich inzwischen verflüchtigt, hat sich geirrt. Aus Japan kommt die Gruppe A.N.P., das ist die Abkürzung von Absoluter Nullpunkt - ein treffender Name, der obendrein abgeleitet ist von dem des Gruppengründers, des Gitarristen und Sängers Kazuyuki Null. Er nennt die Nullpunktmusik eine „Sonic Action“. Der Beizettel belehrt aber, daß man das auch als Zen-Punk interpretieren kann: tierische Schreie und drei bis vier Töne von der dröhnende Gitarre zu gleichschlagenden Drums, gleitender Übergang zum vergleichbaren nächsten Stück vielleicht doch nur eine Variante des Zen-Buddhismus. o FRANZ JOSEPH HAYDN:

Sinfonien Nr. 26, 52, 53. La Petit Bande, Sigiswald Kuijken. Virgin Classics VC 7 90743-2/259 249-231

Wie ein Windstoß kommen diese Sinfonien daher. Nr. 26, deren Entstehen man ins Jahr 1768 datiert, verarbeitet einen gregorianischen Choral, die „Lamentatio des Jeremias“, versteckt im ersten, ausdrücklich im zweiten Satz, woher der Untertitel „Lamentatione“ stammt. Die Nr. 52 ist die wildeste Sinfonie, die ich von Haydn kenne. Solche Dramatik finde ich sonst nur bei Carl Philipp Emanuell Bach, und erst später wieder bei Beethoven. Dagegen ist die Nr. 53, „L'imperiale“ etwas für höhergestellte Persönlichkeiten, die ohne Anstrengung unterhalten werden wollen und auch die eine oder andere geistreiche Wendung mit Wohlgefallen zur Kenntnis nehmen. La Petit Bande spielt die Werke bestechend präzis und mit zupackendem Engagement. o ACRID ACME (OF) P16.D4.

Selektion SCD 002

„It's anti-social to play this record in public“, steht auf der CD. Heißt das nur, daß man zuhören soll? Die Mainzer Avantgardisten haben sich wie kaum ein anderer - wenn man von Helmut Lachenmann und Mathias Spahlinger absieht - mit der musikalischen Rezeption und der gesellschaftlichen Wirkung von Musik auseinandergesetzt, mit den Bedingungen der musikalischen Produktion überhaupt. „Das Prinzip der Montage“, steht im Beiheft, „des Zufalls, des Cut-up war entwickelt worden, als die Unmöglichkeit umfassender, widerspruchsfreier, linearer Weltbeschreibung als rational zu lösende Aufgabe eines Individuums offensichtlich und die Möglichkeit fragmentierender und frei kombinierbarer Beschreibung als in gleichem Maße realistisch erkannt wurde. Mit der Moderne wird das Streben nach Erfahrung von Totalität hinfällig; nur in der Kunst scheint sie rekonstruierbar“. Wenn man sich da mal eingehört hat, wird man bemerken, wie geschickt die wüsten Klangmaterialien montiert sind. Soll das alles Zufall sein? Hinhören muß man sowieso. Dann wird einem vielleicht bewußt, wie antisozial das ist, was sonst in der Öffentlichkeit gespielt wird. o SATIE:

Parade. Relache. Orchestre du Capitole de Toulouse, Michel Plasson. EMI 7 49471 1/PM 375

Da ist außerdem noch drauf: En habit de Cheval, Gymnopedie Nr. 1 und 3, die 3. Gnossienne, La belle Excentrique und die Cinq Grimaces pour Le Songe d'un Nuit d'ete, instrumentiert von Debussy, Poulenc und Milhaud. Ich fürchte, für diese Aufnahme hat man Saties Anweisung (betr. musique d'ameublement), die Musik solle nicht auffallen, gar zu wörtlich genommen und auf die Interpretation aller anderen Kompositionen bezogen. Immerhin kann man hören, wie souverän Erik Satie in der Ballettmusik „Parade“ (das Ballett brachte er mit Picasso, Cocteau und Diaghilev auf die Bühne) seine dadaistische Stilmischung komponierte. Das allein war ein Schlag ins Gesicht jeder Wohlanständigkeit, aber als dann bei der Uraufführung am 18. Mai 1917 das Publikum in diesem musikalischen Wechselbad auch noch Schreibmaschinengeklapper, Pistolenschüsse und Sirenen hören mußte, war der Skandal perfekt. Heute gibt es überhaupt keine Skandale mehr. Ich weiß nicht, ob das gut ist.