Der Buchhalter als Kritiker

■ Vor einem Monat kritisierte Eberhard Rondholz in der taz (5.4.89) Armin Kerkers Übersetzungen der Gedichte von Jannis Ritsos. Heute eine „persönliche Replik“ Armin Kerkers.

Armin Kerker

Wie deutsche Übersetzer die Gedichte des Griechen Jannis Ritsos mißhandeln“, war am 5.4.1989 in einem eindrucksvollen taz-Artikel von Eberhard Rondholz zu erfahren (nach mehreren Hörfunksendungen und einem ganzseitigen Artikel in der griechischen Wochenzeitung 'To Vima‘ zum gleichen Thema). Die deutsche Neogräzistik hat einen neuen Papst, und es ist kaum davon auszugehen, daß sich - außer den Betroffenen irgend jemand gegen diesen multimedialen Rufmord zur Wehr setzt. Wie auch? Kaum einer dürfte in der Lage sein, nachzuprüfen, was objektive Kritik und was persönliche Animosität in den Ausführungen von Eberhard Rondholz ausmacht, am allerwenigsten wohl er selbst. Leider erfordert die Attacke auch eine mehr oder minder persönliche Replik.

Wenn ich recht sehe, geht es - soweit ich betroffen bin ausschließlich um das vor annähernd zehn Jahren erschienene Rotbuch Steine, Wiederholungen, Gitter von Jannis Ritsos. Der WDR-Redakteur Rondholz, fest entschlossen, endlich auch einmal den Dichter Ritsos kennenzulernen und ihn bei dieser Gelegenheit - sozusagen als Entree - ein für allemal gründlich über seine schlechten deutschen Übersetzer zu informieren, besucht also den griechischen Poeten, um ihm die „frohe“ schlechte Botschaft mitzuteilen. Ritsos berichtet ihm von einem Brief des Übersetzers Kerker, worin allerdings weniger „der Mund voll genommen“ wurde, „was seine übersetzenden Kollegen anging“ - wie Rondholz schreibt, sondern von den bereits klassischen Kavafis -Verstümmelungen und den deutschen Seferis- und Kazantzakis -Übersetzungen aus dem Englischen beziehungsweise Norwegischen die Rede war. Aber was soll's!

„Zurück in Deutschland“, teilt Rondholz mit, „habe ich mir bei meinem Buchhändler geholt, was er an Ritsos -Übertragungen im Regal hatte, und mit dem Original verglichen.“ Hört sich sehr seriös an, hat nur einen Schönheitsfehler: Sollen wir diesem Experten für griechische Literatur tatsächlich glauben, er habe sich erst kürzlich bei seinem Buchhändler umgesehen und die deutschen Ritsos -Ausgaben geordert? Nicht doch! Zumindest bei meiner Übertragung von Steine, Wiederholungen, Gitter weiß ich es besser. Wir trafen uns nach der Buchmesse 1980, damals noch befreundet, tauschten Höflichkeiten aus, ich hörte Komplimente über die Eindeutschung der soeben erschienenen Ritsos-Ausgabe, und wir verabredeten sogar beim selben Verlag ein gemeinsames Griechenland-Buch, aus dem dann allerdings nichts wurde. Kaum denkbar, daß der so kritische Rondholz mit einem derart schlechten Übersetzer und so unbedarft ins Blaue faselnden Autor wie mir zusammen ein gemeinsames Buchprojekt - ausgerechnet bei Rotbuch unternommen hätte, wenn er von der Schändlichkeit meiner Übersetzung überzeugt gewesen wäre. Hat er sie also nicht gelesen? Er hat, natürlich; und genausowenig wie der geschmähten Lektorin ist ihm dabei irgend etwas aufgefallen. Damals war er allerdings auch noch nicht der selbsternannte Experte für griechische Literatur, Sprache und Musik.

Er war, was er bis heute geblieben ist: ein vorzüglicher Redakteur eines vorzüglichen Magazins im Hörfunk des Westdeutschen Rundfunks. Tatsächlich hat er bis auf den Tag nie auch nur eine einzige literarische Zeile aus dem Neugriechischen übersetzt und veröffentlicht. Nicht die kleinste Publikation erlaubt es einem, seine übersetzerischen Qualitäten auch nur im Ansatz nachzuprüfen. Dies, obwohl nichts und niemand Rondholz je daran gehindert hat oder hindert, endlich sein geballtes Wissen sprachlich zu verwirklichen und die mustergültigen, bahnbrechenden und fehlerfreien Übersetzungen aus dem Griechischen vorzulegen, die sich von den miserablen und schlimmen Elaboraten aus meiner und anderer Feder unterscheiden. Im Gegenteil meines Wissens hat er solche Vorschläge immer strikt abgelehnt. Und vielleicht war das auch wohlweislich so in Ordnung, denn der Redakteur Rondholz hat mit Literatur etwa so viel zu tun wie ich mit den Computern des Pentagon.

Erst durch die jüngsten Veröffentlichungen erfahre ich, wo seine wahre Begabung liegt: bei der Literatur, also auf einem Gebiet, wo Krethi und Plethi allemal mitreden zu können glauben; und das macht die ganze Angelegenheit etwas schwierig.

Nehmen wir zum Beispiel die von Rondholz in Grund und Bogen verdammte Übersetzung des Ritsos-Gedichtes Herakles und Wir! Natürlich ist die „Bogentechnik“ nicht die „Kunst des Violine-Spiels“, wie er in 'Vima‘ behauptet und auch in der taz durchklingen läßt, sondern - völlig korrekt - die „Technik des Bogens“. (Hätte ich etwa „Flitzebogen“ schreiben sollen?) Natürlich besaßen die Wächter auf Jaros, Leros, Samos und sonstwo keine „Lanzen“, sondern Bajonette; aber „logchi“ heißt nun mal in erster Linie „Lanze“ („Bajonette“ sind xiphologchi“), und das Bild der „Lanze in unserer Seite“ assoziiert selbstverständlich auch die Golgatha-Szene mit der Lanze des römischen Soldaten in der Seite des Gekreuzigten. Vor allem aber: „Unter den Augen der Wächter“ auf den griechischen KZ-Inseln geschriebene Gedichte bedeuten keinesfalls „mit Billigung, Wissen und zuschauender Genehmigung“ der Wächter verfaßte Poeme, wie Rondholz unterstellt. Jeder des Deutschen mächtige Leser kann darunter nur verstehen, was auch gemeint ist: trotz der Überwachung heimlich niedergekritzelte Verse.

„Vor ihrer Nase“ müsse es heißen? Man stelle sich die nach Rondholz „richtige“ Übersetzung vor: „vor der Nase der Sicherungsbeamten“. Gütiger Himmel! Ähnlicher Qualität sind auch die meisten anderen „richtigen“ Übersetzungsvorschläge von Rondholz, deren Korrektheit ich gar nicht in Frage stelle, nur mit Poesie haben sie nichts zu tun.

An anderer Stelle wird mir untergeschoben, ich habe in dem Gedicht Bekehrung einen „Verwalter namens Kilikias“ erfunden, und in den Erklärungen zum Orakel des Mopsos sei überhaupt „alles falsch“, da das von mir Erwähnte sich in Libyen befand, das von Ritsos Gemeinte jedoch in Kilikien (Kleinasien). Tatsächlich ist in meiner Übersetzung von „dem Verwalter Kilikias“ die Rede, also dem „Verwalter von Kilikia“ (wie man statt Kilikien auch sagen kann) - also kein Name, sondern eine Ortsbezeichnung im Genitiv! Und dieser Administrator Kilikias schickte zum Orakel des Mopsos, weil dieser in der kilikischen Stadt Mallos residierte. Alles falsch? Oder falsch gelesen und mißverstanden?

Manche dieser „Mißverständnisse“ grenzen schon ans Infame. So ziert den Rondholz-Artikel ein Porträtfoto von Jannis Ritsos, das aus dem WDR-Film stammt: Ein Traum von Leben und Brot - Jannis Ritsos und sein Griechenland. Der Film wird am 1. Mai 1989 in der ARD gesendet. Gedreht wurde er von dem griechischen Regisseur Pantelis Voulgaris und mir bei tagelangen intensiven Gesprächen mit Ritsos und an Schauplätzen wie Makronissos, Jaros, Samos u.a. Mir zu unterstellen, ich wüßte nichts von den Schreibbedingungen für Ritsos auf diesen Inseln und sei so blöde, sie in ihr Gegenteil zu verkehren - dazu gehört schon einiges!

Offensichtlich aber hat genau das Methode. Selbst die genüßlich zitierte Titelzeile „Wenn die Zeit sich wieder öffnet“ - nach Rondholz natürlich vollkommen falsch übersetzt - gehört dazu. „Kairos“ heißt im Griechischen sowohl „Zeit“ als auch „Wetter“, und wer sagt Rondholz eigentlich, daß diese Zeile so ganz falsch im Deutschen ist? Wenn „die Zeit sich wieder öffnet“, klart nämlich auch das Wetter auf!

Zähle ich zwei und zwei zusammen - nämlich die Tatsache, daß die Ausgabe von Steine, Wiederholungen, Gitter vor zehn Jahren erschien, daß andererseits gerade bei Hanser ein von mir besorgter und übersetzter Ritsos-Band mit dem Titel Unter den Augen der Wächter herauskam - so ergibt sich ein perfektes Timing. Man unterstelle:

a) daß das Rotbuch eine massive Verfälschung ist,

b) daß bereits der Titel des neuen Hanser-Bandes auf einer eklatanten Tatsachenverdrehung beruht - und man hat den gelungenen Rufmord!

Wohlgemerkt: Ich bestreite weder Rondholz noch anderen das Recht, Fehler zu kritisieren. Ich bestreite auch nicht, daß es bei Steine, Wiederholungen, Gitter hier und da Übersetzungsfehler und ungenaue Anmerkungen gibt. Wogegen ich mich aber wehre, ist die Verdammung des Ganzen in Bausch und Bogen als „Mißhandlung“ der Poesie von Jannis Ritsos. Das Buch wurde damals in relativer Abgeschiedenheit vom griechischen Sprachraum übersetzt, aber es hat - wie ich aus etlichen Leserreaktionen erfuhr - so manchem Deutschen bis heute einen Zugang zur Dichtung von Ritsos und zum Verständnis seines Griechenland eröffnet. Denn die poetische Übersetzung eines Gedichtes entsteht nicht nach den Regeln mathematischer Gleichungen oder buchhalterischer Bilanzen. Zwei richtige Wörter plus zwei richtige Wörter ergeben noch keine Gedichtzeile.

Umgekehrt zerstört eine fehlerhafte Anmerkung oder ein falsch übersetztes Wort noch nicht unbedingt ein gutes Gedicht. Und hier weiß ich mich mit dem „in unserem Land derartig mißhandelten, armen“ Ritsos einig, mit dem ich ausführlich über diese Vorwürfe gesprochen habe. Es bedarf auch keines literarischen Perry Mason für den Dichter, „der sich selbst nicht wehren kann“, um festzustellen, daß es jede Menge Gedichtübersetzungen gibt, die Wort für Wort korrekt, aber keine Dichtung sind. Auffälligerweise gehören einige von Rondholz als mustergültig benotete Ritsos -Ausgaben gerade in diese Kategorie. Sie alle sind schon lange auf dem Markt und alles andere als „fehlerfrei“. Daß sie aber nach so langer Zeit, in der reichlich andere und neue Ritsos-Übersetzungen erschienen sind (etwa in der mit keinem Wort erwähnten Luxemburger „Edition PHI“), als die einzig seriösen und lesenswerten Bücher von Ritsos in deutscher Sprache angepriesen werden, das gibt mir doch zu denken. Zu denken gibt mir auch die indirekte Aufforderung, künftig Abdruck und Vertrieb der geschmähten anderen Ritsos -Bücher einzustellen. O-Ton Rondholz: „Leider kann ein Artikel wie dieser nicht verhindern, daß Übersetzungen wie diese auch weiterhin gedruckt werden...“ - Das ist eindeutig. Ob er damit dem großen alten Jannis Ritsos zu seinem achtzigsten Geburtstag das passende Geschenk auf den Tisch gelegt hat? Ich wage es zu bezweifeln.