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Wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten

Tamar Abrams, Sprecherin der Organisation „National Abortion Rights Action League“ (Naral) setzt sich für die Beibehaltung der Abtreibungsfreiheit in den USA ein  ■ I N T E R V I E W

taz: Am 27.4. hat das Oberste Gericht einen Fall zur Beschränkung der Abtreibungsfreiheit gehört. Die Entscheidung des Gerichts, das seither nichtöffentlich tagt, wird im Juli erwartet. Sie gilt als richtungsweisend für die Zukunft des legalen Schwangerschaftsabbruchs in den USA. Gab es in dieser Anhörung irgendwelche Hinweise darauf, wie die Entscheidung ausfallen wird?

Tamar Abrams: Nein, ich glaube, daß es weiterhin mehrere Möglichkeiten gibt. In einem Punkt sind wir heute jedoch zuversichtlicher. Wir haben endlich die breite Öffentlichkeit erreicht, die mehrheitlich für die Beibehaltung der Abtreibungsfreiheit ist. Das Aufsehen, das dieser Fall in den Medien, im Kongreß und in allen Bundesstaaten erregt, hat die Gefahr, in der die Abtreibungsfreiheit schwebt, vielen Amerikanern bewußt gemacht. Eine aufgeklärte Bevölkerung läßt sich auch aktivieren.

In den Medien heißt es, daß der Ausgang dieses Falles von der Stimme der einzigen Frau des neunköpfigen Gerichts, Sandra Day O'Connor, abhängt. Aber O'Connor hat in der Vergangenheit in zwei Fällen gegen die Mehrheit gestimmt, als das Gericht Beschränkungen der Abtreibungsfreiheit als verfassungswidrig erklärte. Gibt es trotzdem noch Hoffnung?

Die Haltung der beiden anderen von Reagan ernannten Richter ist ebenso ungewiß. Dies gilt besonders für Anthony Kennedy, der seit seiner Ernennung noch an keiner Entscheidung zur Abtreibungsfrage teilgenommen hat.

Sie sagen, alle Möglichkeiten seien offen. Gegner der Abtreibungsfreiheit meinen jedoch, daß sie auch dann siegreich sind, wenn das Gericht auch nur eine der vom Staat Missouri erlassenen Beschränkungen aufrechterhält. Für die Befürworter der Abtreibungsfreiheit bleibt damit nur eine Möglichkeit: Die komplette Ablehnung aller Beschränkungen durch das Gericht.

Das stimmt. Selbst wenn es nur eine Beschränkung gibt, ist das schlimm für uns. Beschränkungen für einzelne Frauen sind auf lange Sicht Beschränkungen für uns alle. Es ist nicht fair, daß die Benachteiligten unter uns - arme Frauen, Angehörige ethnischer Minderheiten, Frauen im teenage-Alter

-zuerst betroffen sein werden.

Gibt es denn Bundesstaaten, von denen mit Sicherheit angenommen werden kann, daß sie die Abtreibungsfreiheit beibehalten? Auch wenn sich das Gericht jetzt für Beschränkungen entscheidet?

Nur sehr wenige. Und sogar in diesen wird es Auseinandersetzungen um die Abtreibungsfreiheit geben, die Ressourcen schlucken und eine Atmosphäre der Unsicherheit schaffen werden. In zwei Staaten, Illinois und Missouri, wird es - ohne jede Ausnahme - keine Abtreibungen mehr geben, falls das Oberste Gericht entscheiden sollte, die Abtreibungsgesetzgebung wieder den einzelnen Staaten zu überlassen. Aber für die meisten Staaten lassen sich keine Voraussagen machen. Man braucht sich nur New Hampshire anzusehen. Das Parlament des Staates stimmte im letzten Monat für die Aufhebung einiger Beschränkungen der Abtreibungsfreiheit. Das war eine Überraschung für uns, weil es sich durchaus nicht um ein Parlament handelt, das der Abtreibungsfreiheit positiv gegenüber steht. Der Gouverneur aber legte ein Veto ein. Wir gehen davon aus, daß wir in keinem Staat sicher sind.

Wie sehen die Strategien von Naral aus? Sie haben Ihre Kampagne in den letzten Monaten ja stark ausgeweitet.

Ja, wir suchen Unterstützung im Kongreß, in den einzelnen Bundesstaaten und natürlich in der Bevölkerung. Unser Ziel ist es, die Bevölkerungsmehrheit dazu zu bewegen, die Frage der Abtreibungsfreiheit bei den Wahlen in den Vordergrund zu stellen. Unsere Gegner haben das Terrain schon zu lange usurpiert. Wir werden es ihnen gleichtun.

Mit anderen Worten, Sie bereiten sich auf das Schlimmste vor?

Ja, wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten.

Sie betonen, daß die Bevölkerungsmehrheit für die Beibehaltung der Abtreibungsfreiheit ist. Es gibt Statistiken, die diese Behauptung in Frage stellen. Ich zitiere aus der 'New York Times‘: 49 Prozent der Befragten sprachen sich für die Beibehaltung der Abtreibungsfreiheit wie sie im Moment existiert aus, 39 Prozent befürworteten Abtreibungen nur unter bestimmten Umständen. Jedoch nur 26 Prozent befürworteten einen legalen Schwangerschaftsabbruch für Frauen, die aus Arbeits- oder Ausbildungsgründen abtreiben wollen. Eine ähnliche Mehrheit (48 Prozent gegen 40 Prozent) stimmte der Behauptung „Abtreibung ist das gleiche wie die Ermordung eines Kindes“ zu. Ein Drittel von ihnen schloß sich jedoch der Meinung an, daß „Abtreibung manchmal die beste Lösung in schlimmen Situationen“ ist. Diese Umfrageergebnisse sind doch äußerst widersprüchlich.

Die Abtreibungsfrage ist komplex und die befragten Personen werden auf verschiedenen Ebenen angesprochen. In einem Punkt sind die Aussagen jedoch immer konstant gewesen, auch die der 'New York Times'-Umfrage: Die meisten Befragten sind für die Entscheidungsfreiheit der Frau. Eine Mehrheit, die konstant bei siebzig Prozent oder darüber liegt. Wenn die Abtreibungsfrage auseinandergenommen wird - soll eine Frau legal aus diesem oder jenem Grund abtreiben dürfen? -, dann fordern wir die Befragten auf, moralisch zu urteilen. Das Umfrageergebnis reflektiert dies. Es ist besonders interessant, daß jüngere Frauen und Männer weit mehr als ältere für Abtreibungsfreiheit sind, wenn es um moralische Fragestellungen geht. Dies nämlich sind Menschen, deren Schwestern, Freundinnen usw. abgetrieben haben, die also Notlagen kennen, die Frauen dazu bewegen, abzutreiben.

Naral und andere Befürworter der Abtreibungsfreiheit haben eine breite Welle der Unterstützung mobilisiert. Kirchen, Ärzteverbände, Umweltgruppen, Organisationen, die sich mit der Weltbevölkerung befassen und viele andere haben sich in Briefen an das Oberste Gericht zugunsten der Abtreibungsfreiheit ausgesprochen. Besonders interessant ist ein Brief, der von fast 300 amerikanischen Historikern unterzeichnet ist. Kennen Sie sich in der Geschichte der Abtreibungsfrage in den USA aus?

Im 19.Jahrhundert waren Abtreibungen legal und Frauen trieben häufig ab. Erst Ende des Jahrhunderts wurde die Abtreibungsfreiheit eingeschränkt. Es ging zunächst um den Schutz der Schwangeren. Bei den Eingriffen starben viele Frauen, allerdings starben auch viele Frauen bei der Geburt. Dazu kam der Wunsch der Mediziner, Kontrolle über Frauen auszuüben sowie der Druck der Gesellschaft, Frauen in eine bestimmte Rolle zu drängen und die Tabuisierung einer Sexualität ohne Fortpflanzung. Niemals jedoch bis in jüngster Zeit standen die Rechte des Fötus im Zentrum der Debatte. Seit der Legalisierung der Abtreibung in den siebziger Jahren sind sichere medizinische Eingriffe entwickelt worden. Die Gegner der Abtreibungsfreiheit haben ihre Argumente entsprechend abwandeln müssen und stellen heute das „Recht des ungeborenen Lebens“ vor das Recht der Entscheidungsfreiheit der Frau.

Interview: Silvia Sanides

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