Der Januskopf der Republik

Wieviel Liebe ist erlaubt zu dieser Republik? / Die Heinrich-Böll-Stiftung organisierte Gegenkongreß zu den offiziellen 40-Jahr-Feiern / Sehnsüchtige Suche nach politischer Utopie  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

„Ob dieses Land so werden kann, daß man nach ihm Heimweh empfinden könnte?“ fragte Heinrich Böll einmal, als die Republik noch nicht zwanzig war. Zum 40jährigen machten sich die Heinrich-Böll-Stiftung, die Gustav-Heinemann-Initiative und andere links-liberale Veranstalter am Wochenende auf die Suche nach einer Antwort. Ein Auftakt zum 8. Mai, ein Gegenpol zu Verdrängung und Selbstgefälligkeit bei den offiziellen Republikfeierlichkeiten, so umschrieb Hilde von Braunmühl das Anliegen dieses Kongresses in Bonn. Aber vor allem war es: Die sehnsüchtige Suche nach einem politischen Standort Links-Liberaler, der ein Bekenntnis, ja sogar Liebe zu diesem Land erlaubt.

Wie schmal der Grad ist, auf dem diese Sehnsucht balanciert, war schon dem Titel der Veranstaltung anzumerken: „Wer küßt die Republik?“ Die Zweideutigkeit war nicht beabsichtigt, doch drängt sich die märchenhafte Frage auf: Dornröschen oder Froschkönig? Schläft die Republik nur oder ist sie ein häßlich-quakendes Geschöpf, das einer gründlichen Metamorphose bedürfte? Ralph Giordano, der die große Rede dieses Kongresses hielt, fand ein anderes Bild: den Januskopf. Der große Friede mit den NS-Tätern sei das Brandmal auf dem rückwärts gewandten Antlitz des Januskopfes und „das Fundament, auf dem die bundesrepublikanische Gesellschaft steht“: Die Gesellschaft der zweiten Schuld, die auch der soziopolitische Schoß des bundesdeutschen Terrorismus sei.

Doch Giordano, der jüdische Deutsche, bekannte sich auch glühend zu jenem anderen Gesicht der Republik, „das zweite, das richtige, das linke, das wir mit Freuden küssen können“. Sein Bekenntnis zur „fortwährend bedrohten Kostbarkeit“ der zweiten deutschen Demokratie sei der Untergrund seiner Kritik an ihr - eine Verbundenheit, verwandt mit der Dialektik Heinescher Liebe zu Deutschland, abgestoßen und angezogen zugleich.

Es war ein großer, zum Widerspruch reizender Bogen, den Giordano schlug: Von den Auspuffgasen, die unweigerlich an die Gaskammern von Auschwitz erinnern, zu den geliebten Rundungen des Siebengebirges. Sich unter diesem Bogen Standorten zu nähern, damit taten sich die 400 TeilnehmerInnen in Bonn schwer. 28 Referenten, darunter der rechte Publizist Rüdiger Altmann und der CDU-Denker Wulf Schönbohm, verdeutlichten eher die gewollte Breite des Diskurses, als ihn wirklich zu führen. Ob die Wiederbewaffnung der Sündenfall der Republik war, wie Altbischof Scharf meinte, oder ob es der notwendige Schritt zur Souveränität war, wie es Ex-General Uhle-Wettler nannte, darüber gab es keine Diskussion, konnte es wohl auch nicht.

Das Abschlußpodium, der Frage „Haben wir noch Utopien?“ gewidmet, geriet zum Podium gegenseitiger Mißverständnisse. Bernd Ulrich, freier Journalist und im bürgerlichen Beruf Mitarbeiter von Antje Vollmer, bezweifelte, daß der Standpunkt des weißen Mannes überhaupt geeignet sei, nach Utopien zu suchen: „Lieber eine anständige Resignation als unanständige Utopie.“ Die Zukunft werde weiblich sein, aber auch dadurch nicht grandios werden: „So weit wie heute, werden wir nie wieder sein.“ Und so viel Wasser könne er gar nicht trinken, wie Tränen über gescheiterte Utopien vergossen werden müßten. Robert Jungk nannte es „verbrecherisch“, die Menschen so zu entmutigen - ein Vorwurf, der später zurückgenommen wurde, jedoch die Moderatorin Barbara Dickmann zu der Bemerkung veranlaßte: „Je älter die Referenten, desto größer das Prinzip Hoffnung.“ Draußen, vor der Stadthalle, bauten Junge an einem „Platz der Demokratie“: Namen sollte man dort in Stein hauen, aber nicht die eigenen, denn „Demokratie muß immer für die anderen sein“, wie einer erklärte. Mit Carl Amerys Appell an die Kreativität jedes einzelnen („wir sind auf uns selbst zurückgeworfen“), ging man schließlich nach Hause. Am selben Ort, in der Godesberger Stadthalle, wird in einer Woche Gerhard Frey von der DVU auf seine Weise den Januskopf verkörpern. Ralph Giordano: „Für die Bundesrepublik stehen im fünften Jahrzehnt die Zeichen auf Sturm. Wir werden diese Republik nicht noch einmal ihren Feinden überlassen.“