Kontroversen über Memminger Urteil

■ Streit auf dem deutschen Ärztetag / SPD-Politkerinnen forderten Revision des Urteils / Bundesfamilienministerin Lehr will "Beratungsgesetz" zum Paragr. 218 noch in dieser Legislaturperiode durchsetzen

(Berlin dpa/ap/taz) - Zwei Tage nach der Verurteilung des Memminger Frauenarztes Horst Theissen erklärte Bundesfamilien- und Frauenministerin Ursula Lehr (CDU), das umstrittene „Beratungsgesetz“ zum Paragraphen 218 auch gegen die Widerstände von CSU und FDP noch in dieser Legislaturperiode durchsetzen zu wollen. Der Gesetzentwurf zu einem bundeseinheitlichen „Schwangerenberatungsgesetz“ war wegen Kontroversen zwischen den Koalitionspartner seit Monaten auf Eis gelegen. Die CSU hatte darauf beharrt, die in ihrem Bundesland bereits praktizierte räumliche Trennung von Beratung und Indikationsfeststellung beizubehalten, während die FDP nur eine personelle Trennung akzeptieren wollte. Ein weiterer Konfliktpunkt stellte die Formulierung des Beratungsziels dar. Das Memminger Urteil hat bundesweit heftige Kritik hervorgerufen. Der Frauenarzt Horst Theissen war am Freitag von der ersten Strafkammer des Landgerichts Memmingen zu zweieinhalb Jahren Gefängnisstrafe verurteilt worden. Außerdem verhängte das Gericht ein dreijähriges Berufsverbot. Nach Ansicht des Gerichts hatte der Gynäkologe in 36 Fällen eine Abtreibung vorgenommen, ohne daß eine Notlage nach Paragraph 218a vorlag. In weiteren 39 Fällen wurde der Arzt verurteilt, weil der Instanzenweg (vorgeschriebene Beratung und Indikationsfeststellung durch einen weiteren Arzt, § 218b und 219) nicht eingehalten wurde.

Auf dem 92. Deutschen Ärztetag in Berlin brach über das Memminger Urteil ungewöhnlich heftiger Streit aus. Oppositionelle Ärzte und der Präsident der Berliner Ärztekammer, Ellis Huber, hatten in einer Erklärung von einem „Skandalurteil“ und „politischer Justiz“ gesprochen und kollegiale Solidarität mit Theissen gefordert. Die Mehrzahl der Delegierten hatte die Erklärung nach einer hitzigen Diskussion empört zurückgewiesen. Die Ärzteschaft könne sich nicht mit einem Kollegen solidarisch erklären, der gegen alle geltenden Bestimmungen gehandelt habe, um sich selbst zu bereichern, hieß es.

Die Ärztinnen und Ärzte konnten sich gemeinsam lediglich zu der Feststellung durchringen, daß die betroffenen Frauen die Leidtragenden seien. Weiterhin müsse geprüft werden, ob die Beschlagnahme und Verwendung der Patientenkartei rechtens gewesen sei.

Führende SPD-Politikerinnen sprachen sich entschieden gegen das Urteil aus. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Herta Däubler-Gmelin sprach von einem Urteil, bei dem die Frauen auf der Strecke blieben. Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger forderte eine Revision. Die Grünen bezeichneten die Entscheidung des Gerichts als eine „Katastrophe für alle Frauen“. „In Memmingen sollte ein Exempel statuiert werden“, erklärte der stellvertretende Bundesvorsitzenden von Pro Familia, Erich Bodenbender. Kern des Urteils sei, daß „Ärzte eingeschüchtert“ und gleichzeitig mit „richterlicher Unerbittlichkeit“ bestimmte Moralvorstellungen durchgesetzt werden sollten.

Dagegen verteidigte CSU-Generalsekretär Erwin Huber den Schuldspruch, weil er zum „besseren Schutz ungeborener Kinder“ beitrage.

Nach einer Meinungsumfrage des Wickert-Instituts empfinden lediglich zehn Prozent der Erwachsenen das Urteil als angemessen. Dagegen bezeichneten 83 Prozent der über 100 Befragten - 86 Prozent der Frauen und 80 Prozent der Männer

-das Urteil als zu hart. Nur 0,2 Prozent meinten, das Urteil sei zu milde.

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