SCHAU NACH VORN

■ Ein Drogentherapieprojekt spielt Theater

Die Straße zum Heckeshorn in Wannsee gehört zu den abgelegensten Gegenden Berlins. Dort verbirgt sich, zwischen modernen Hochbauten, ein Landhaus, bei dessen Anblick man vergißt, daß es sich immerhin noch im BVG-Bereich befindet: das rustikal-herrschaftliche Landhaus Oppenheim. Bis zum See reichte der einstige Park des um die Jahrhundertwende erbauten Gebäudes. Heute sind davon nur noch wenige Quadratmeter übriggeblieben, die zum Kräuteranbau, zur Hühnerzucht und als Spielfläche genutzt werden.

Seit fünf Jahren ist dort eine Drogenlangzeiteinrichtung beherbergt. In baufälligem Zustand konnte das Haus für einen Spottpreis gemietet werden und wird seitdem von den jeweiligen BewohnerInnen selbst hergerichtet und instandgehalten - als Teil der Therapie.

Zwanzig Plätze gibt es am Heckeshorn, derzeit sind jedoch nur zwölf belegt. Eine erfolgreiche Entziehungskur ist die Voraussetzung für die Aufnahme. Ungefähr 18 Monate dauert die Therapie und läßt sich grob in drei Phasen aufteilen: das Zurechtfinden und Einleben zu Anfang, die aktive Mitarbeit und Teilnahme am Leben und schließlich die Außenorientierungsphase, in der man nur noch in Oppenheim wohnt, sich aber häufig in der Stadt aufhält. Das Außergewöhnliche an der Organisation des Landhauses ist die Selbstbewirtschaftung und die Eigenverantwortlichkeit. Die vier ErzieherInnen und SozialpädagogInnen verlassen das Gebäude am Abend. Bis vor kurzem waren die Oppenheimer abends und nachts ganz unter sich, mittlerweile mußte jedoch eine Nachtschicht eingeführt werden, und auch die Einstellung eines Arztes bzw. einer Ärztin ist zu erwarten. Dies sind aufwendige und teure Maßnahmen, die einzig dem Zweck dienen, daß Oppenheim auch amtlich und staatlich als therapeutische Einrichtung anerkannt und genutzt wird. Bislang wird der Aufenthalt vorwiegend durch die Sozialämter finanziert.

Neben den Arbeiten am Haus und der Gesprächstherapie steht die kreative Beschäftigung, vor allem das Theaterspielen im Mittelpunkt des Lebens. Auch die Neuankömmlinge werden gleich ins Ensemble mit einbezogen. Zwei TheaterpädagogInnen geben Hilfestellung im Rollenspiel und bei der szenischen Bewältigung gemachter und gefürchteter Erfahrung. Das Spiel entsteht gänzlich aus den SchauspielerInnen heraus, eine Vorgabe existiert nicht. Theater als Ergänzung der Therapie, als Podium und Versuchsfeld der neu gewonnenen Sicherheit in Berlin ein einzigartiges Modell. Zunächst zählt nur der Spielprozeß an sich, das Freiwerden in einer Rolle, die Interaktion. Und trotzdem entsteht an irgendeinem Punkt der mehrmonatigen Improvisationszeit der Wunsch nach einer Aufführung. Dann wird der Text fixiert und in seiner endgültigen Gestalt gelernt, Requisiten und Bühnenbild hergestellt und ein Termin festgelegt.

Am ersten Maiwochenende dieses Jahres war mit Vorübergehend geöffnet die vierte öffentliche Vorstellung des „Theater Oppenheim“ zu sehen. Schon eine halbe Stunde vor Beginn war der Vorraum zum Bersten voll. Das Publikum bestand vorwiegend aus Angehörigen anderer Drogeneinrichtungen, Verwandten, ehemaligen TherapieabsolventInnen und solchen wie ich, die auf Umwegen von diesem Projekt gehört hatten. Eine breitere Öffentlichkeit ist auch gar nicht erwünscht. Daß in erster Linie für die Gruppe gespielt werde und daß er nur für diese auf der Bühne stehe, erklärte mir tags darauf einer aus dem neunköpfigen Ensemble mit Entschiedenheit.

Und trotzdem ist eine Spielsituation mit einem Publikum spannend und neu, die Reaktionen der Anwesenden wurden genau beobachtet und diskutiert. Dicht gedrängt saß man auf der Zuschauertribüne, die in der jugendstilvollen Eingangshalle des Landhauses aufgebaut war, und starrte minutenlang in eine schwarz ausgeschlagene Guckkastenbühne, bevor sich schließlich die hintere Bühnenwand als Vorhang entpuppte und den Blick auf die Hinterbühne freigab. Mit einer Imbißbude, einer Parkbank und einem Wandprospekt wurde ein Bahnhof dargestellt, auf dem sich ein Großteil der Szenen abspielte. Kurze, scheinbar nebensächliche, alltägliche Erlebnisse und Begegnungen, die sich im nachhinein zu einem dichten Netz zusammenfügen. Sequenzen aus einem Pennerleben, der Alltag des Imbißbudenbesitzers, Szenen aus der Familie, Beziehungsprobleme, Isoliertheit in der WG, Frust am Arbeitsplatz, Prostitution und Dealerei auf dem Bahnhofsgelände, die Trostlosigkeit nach der Entlassung aus dem Knast, das Glück, wenn ein Freund hilft - Träume, Hoffnungen, Ängste. Krisen und Einsamkeit spitzen sich zu, doch die Problemlösung Droge wird immer wieder entschieden abgelehnt. Lachen, Reden und Kommentare im Zuschauerraum zeigten, daß schon während des Spiels eine Auseinandersetzung damit in Gang kam. Und so manches übertrieben laute Gelächter war nur ein allzu deutlicher Ausdruck von Betroffenheit.

Dabei führte gerade nicht der persönliche Bezug zu den dargestellten Inhalten Regie, sondern eine produktive Distanz, die erst Komik ermöglicht, die das Geschehen stilisiert und übertragbar macht. Eine Distanz, die hart erarbeitet, ja erkämpft werden mußte, die im Probenprozeß auch den Heilungsprozeß erfahrener Verletzungen vorantrieb, die einen Sieg über die hoffnungslose Involviertheit bedeutete und von der Souveränität auf der Bühne letztendlich auch zur Selbstbestimmung im Leben führen wird.

Das Erfolgserlebnis des Abends machte weniger das begeisterte Klatschen des Publikums aus, sondern vor allem die Gewißheit des Ensembles, sich durch eine Phase ihres Lebens hindurchgespielt, vielleicht ein Stück weit freigespielt zu haben.

Mut zum Weitermachen war das zentrale Anliegen der Vorstellung, und der wurde durch den selbstkomponierten Schlußsong eindringlich vermittelt: „Wenn du wieder mal vor deines Körpers Schlachtbank stehst ... schau nach vorn, geh geradeaus ...“

Petra Kohse