Ein Gedenken, das nicht von Pappe ist

■ Neunjährige Schüler der Heinrich-Zille-Grundschule beschäftigten sich mit den Opfern des Nationalsozialismus Sie gestalteten eine Gedenktafel für einen ermordeten Handwerker / Der Lehrer staunt, „was die alles behalten haben“

Gestern morgen vor dem Künstlerhaus Bethanien: 25 Kinder verteilen mit ernster Miene selbstgemachte Flugblätter und lehnen eine Gedenktafel aus Pappe an einen Pfosten vor dem Eingang. Die überwiegend Acht- bis Neunjährigen sind SchülerInnen der Kreuzberger Heinrich-Zille-Grundschule und sie verstehen ihr Treiben als Heimatkunde vor Ort: „Wir wollen an Wilhelm Lehmann erinnern“, erklärt Fritzi aus der dritten Klasse.

„Das ist ein Handwerker gewesen, und dem wurde, weil er einen Spruch gegen Hitler ans Klohaus am Mariannenplatz geschrieben hat, der Kopf abgeschlagen“, ergänzt ihre Mitschülerin Mehtap. Vor 46 Jahren sei das gewesen, weiß der Steppke Klaus zu berichten und auch, wer das getan hat: „Die Nazis natürlich“. Ihr Lehrer Klaus Emrich steht inmitten des Kinderknäuels und ist selbst ein bißchen erstaunt, was seine SchülerInnen so alles behalten haben. „Ich habe ihnen von Wilhelm Lehmann erzählt, und das Interesse war sehr groß, mehr über sein Leben zu erfahren“, so der Pauker.

„Im Sachkundeunterricht haben wir den Lebenslauf von Lehmann herausgefunden“, erzählt Fritzi. Danach hätten sie dann alles aufgeschrieben und Bilder dazu gemalt. Das Ergebnis: jenes vierseitige Faltblatt, das die Kinder verteilen. Warum sie das tun? „Wir wollen, daß sich viele Leute an Wilhelm Lehmann erinnern“, so Mehtap und verweist auf die Tafel, die mit Blumen aus dem Schulgarten geschmückt ist. Auf dieser Tafel wie auch im Faltblatt ist nachzulesen, wo Lehmann gewohnt hat, wieviel Miete er bezahlen mußte und daß er mit 73 Jahren hingerichtet worden sei.

Auf die Idee, mit seinen SchülerInnen dem alltäglichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu gedenken, sei er im November letzten Jahres gekommen, sagt Emrich. „Da ich ja mit Achtjährigen noch keine antifaschistischen Diskussionen führen kann, lag es nahe, ein konkretes Beispiel vorzustellen.“ Hilfe habe er hierfür von Martin Duispol erhalten, der im Kreuzberger Kunstamt für das Antifaschistische Gedenktafelprogramm zuständig ist. „Eine richtige Gedenktafel für Lehmann ist schon in Arbeit und soll im Herbst eingeweiht werden“, versicherte Duispol bei der Einweihung der Schülertafel. Die Kinder seien ihm mit ihrem Mahnmal schlichtweg zuvorgekommen, was er aber sehr begrüße. Volksbildungsstadtrat Dirk Jordan, der sich ebenfalls vor dem Bethanien eingefunden hatte, erklärte mit ernster Miene: „Wir alle sollen das Leben anderer schützen, die Gedenktafel ist ein Beitrag dazu.“

Klar sei ihm, daß längst nicht alle Kinder die geschichtlichen Zusammenhänge begriffen, erklärt Emrich. Es sei jedoch wichtig, auch Kindern zu vermitteln, wie schlimm es sei, daß vielen Menschen damals wegen ihrer eigenen Meinung der Kopf abgeschlagen wurde. „Das hat die Kinder sehr betroffen gemacht“, so der Lehrer, während seine SchülerInnen um die Gedenktafel toben.

Und dann sei natürlich auch das Thema Ausländerfeindlichkeit zur Sprache gekommen. Dazu Fritzi: „Früher sollten die Juden raus, jetzt die Ausländer. Warum?“ In ihrer Klasse sei keiner gegen Ausländer, meint auch Mehtap und liest einen Satz vor, der auf dem Faltblatt in türkisch, deutsch und polnisch geschrieben steht: „Auch die Nazis wollten, daß die Ausländer aus Berlin raus sollen. Die Ausländer sind früher die Juden gewesen, und heute sind es Türken und Polen.“

cb