Im Labyrinth der Macht

■ Gabriel Garcia Marquez‘ neuer Roman beschäftigt sich mit dem Befreier Lateinamerikas, mit Simon Bolivar Unser kolumbianischer Korrespondent hat das Buch, das es bisher nur auf spanisch gibt, gelesen

Ciro Krauthausen

Ein General tritt die „Rückreise ins Nichts“ an. „Die Zeit, die ihm verbleibt, wird gerade noch dazu ausreichen, um ins Grab zu gelangen“, erkennt ein englischer Diplomat. In Bogota, der Stadt des immerwährenden Regens, wo zwei Jahre zuvor ein Attentat auf ihn verübt wurde, sind die Hauswände mit Beschimpfungen gegen ihn vollgeschmiert. Er verabschiedet sich von seiner Geliebten, die ihm auf der letzten Reise nicht folgen wird. Der General ist schwerkrank, verliert an Gewicht und - schrumpft an Körpergröße. „Gehe mit Gott, Gespenst!“, ruft ihm eine unbekannte Frau nach. Des Generals Würde und Verstand aber sind intakt. Während der langen und mühsamen Reise auf dem Magdalena-Fluß ziehen noch einmal die Abschnitte seines Lebens an ihm vorbei; immer wieder trifft er auf Zeugnisse seiner mächtigen Vergangenheit. Frauen, die er kurz, aber innig liebte, tauchen auf und verschwinden. Der Tod naht. Am Meer angelangt, flackert die Hoffnung auf eine Wende ein letztes Mal wieder auf: Mit allem noch einmal zu beginnen, den Krieg aufs Neue zu entfachen, scheint ihm plötzlich möglich. Als auch diese Illusion verfliegt, stirbt er am 17.Dezember 1830 sieben Minuten nach eins.

Der General hieß Simon Jose Antonio de la Santisima Trinidad Bolivar y Palacios - Simon Bolivar. Er war es, der der spanischen Krone als Feldherr der Unabhängigkeitskriege „die halbe Welt“ abtrotzte, war der erste Machthaber der neuen Republiken, ein Utopist, der bis zum letzten Atemzug für ein vereinigtes Lateinamerika kämpfte. Simon Bolivar, ein Mann voller Widersprüche, in manchen Zügen ein südamerikanischer Napoleon, über den sich die Historiker noch heute unversöhnlich streiten.

„Nun ist es an der Zeit, den Schemel an die Haustür zu lehnen und damit zu beginnen, die Einzelheiten dieser nationalen Erschütterung von Anfang an zu erzählen, noch bevor die Historiker Zeit finden, um hier aufzutauchen“, schrieb Garcia Marquez 1961 in der Erzählung Das Leichenbegängnis der großen Mama. Anderthalb Jahrhunderte nach Bolivars Tod haben die Historiker viel Zeit gefunden, um die Geschichte des Libertadors, des Befreiers, auf ihre Art und Weise aufzuschreiben. Die Historik, die den politisch engagierten Garcia Marquez schon immer beschäftigt hat, ist zu einem wichtigen Bestandteil seines Werks geworden, vorab in Hundert Jahre Einsamkeit, dem Roman, der sich auch als literarische Aufarbeitung der Geschichte Lateinamerikas lesen läßt. Mehr noch als die objektive Realität der Geschichte interessiert ihn der Mythos, die „Realität der Phantasie der Völker“, wie der Literaturkritiker Angel Rama schrieb.

Ganz anders, zumindest auf den ersten Blick, geht der Nobelpreisträger in seinem neuesten Roman vor; nie zuvor hatte er sich so streng an die Spielregeln der Historiker gehalten. Angefangen mit den 34 Bänden des englischen Vertrauten Bolivars, General O'Leary, arbeitete er in zwei Jahren die gesamte Literatur über den Libertador auf. Die weitaus meisten Fakten in Der General in seinem Labyrinth sind historisch abgesichert, und die gesamte wörtliche Rede Bolivars entspringt zeitgenössischen Briefen und Aufzeichnungen. Mit südamerikanischer Geschichte vertrauten Lesern wird auffallen, daß Garcia Marquez seine Romanfigur nicht neu erfindet, sondern nur nachzeichnet und vorsichtig interpretiert. Der Roman bietet kein neues Bild der widersprüchlichen Gestalt Bolivars; dessen Lebensgeschichte ohnehin spannend und farbig genug war. So spannend, daß der Schriftsteller sich ausschließlich Bolivar widmet, die Nebenfiguren eher blaß zeichnet, und den politischen und sozialen Kontext kaum ins Bild rücken läßt. Insofern ahmt Garcia Marquez konservative Geschichtsschreibung nach - von „new history“ keine Spur.

Doch den akzentuierten, traditionellen Spielregeln der Historiker zum Trotz verschwindet das in früheren Werken so präsente kollektive Bewußtsein nicht. Zum Geschichtsbild des Volkes, zum Mythos, gelangt man außerhalb des Romans. In einer kleinen kolumbianischen Ortschaft etwa, wo am Dorfrand ein Gedenkstein mit zwei entgegengesetzten Pfeilen auf die alten Marschrouten des Libertadors verweist. In Südamerika ist Bolivar ein Mythos. Nicht nur bei den stockkonservativen Oligarchen - die Geschichtsakademien erneuern immer wieder den heroischen Anstrich - sondern auch in allen anderen Gesellschaftsschichten und sogar in der Linken, die selten eine Gelegenheit ausläßt, voll Pathos den Mythos aufzupolieren. Nicht umsonst nennt sich der Zusammenschluß aller kolumbianischen Guerillabewegungen „Guerilla -Koordination Simon Bolivar“. Der Libertador ist ein Symbol der nationalen Einheit, eine Identifikationsfigur in einem zerrütteten Kontinent.

Über Bolivar zu schreiben, heißt so - trotz aller historischer Fakten -, es mit der „Phantasie der Völker“ zu tun zu bekommen. War in den vorhergehenden Romanen der Mythos Ausgangspunkt für das Verständnis der Geschichte, so ist in Der General in seinem Labyrinth die Geschichte Anstoß zum Nachdenken über einen Mythos. Denn Garcia Marquez‘ Libertador ist ungemein menschlich: trotzig, eitel, tobsüchtig und ein schlechter Verlierer bei den häufigen Kartenspielen. Aber auch: humorvoll, träumerisch, stolz. Von seinem Podest steigt der General zu den gewöhnlichen Sterblichen hinab.

Der General in seinem Labyrinth trägt das Markenzeichen „Garcia Marquez“: ausschweifende, detaillierte Beschreibungen, präzise und farbige Bilder, ein ruhig dahinfließender Tonfall - diesmal wird streng chronologisch erzählt, mit nur wenigen Rückblicken. Der weltweite Bestseller-Erfolg ist vorprogrammiert. Auch inhaltlich lassen sich unschwer die typischen Stilmittel und Themenkreise des Nobelpreisträgers ausmachen. Schließlich wählte er für seinen Roman bewußt die letzten acht Monate im Leben Bolivars, den am wenigsten dokumentierten Lebensabschnitt des Libertadors. So erhält der Schriftsteller inmitten der historischen Grenzen einen Freiraum, in dem er das Schicksal Bolivars aus der Sicht der eigenen Leitmotive heraus interpretieren kann.

Der Mann, der die Unabhängigkeitskriege gegen die spanische Kolonialherrschaft anführte, der zeitweilig Herrscher über alle Andenstaaten war, ist am Ende seines Lebens allein, und nur eine Handvoll oft von Zweifeln geplagter Getreuer bleibt ihm. Einsamkeit und Macht gehen Hand in Hand, auch weil Macht blendet und zu Willkür und Gewalt wird. Josefa Sagrario heißt in dem Roman eine der Geliebten des Generals, sie wird vom Libertador selbst zusammen mit anderen politischen Widersachern versehentlich des Landes verwiesen...

Der Gegenpol zu Einsamkeit und Macht ist bei Garcia Marquez die Liebe. Wie wichtig sie ihm ist, zeigt er daran, daß in Der General in seinem Labyrinth die Frauen die einzigen frei erfundenen Romanfiguren sind. Bolivar selbst - das ist nicht erfunden - beginnt seine Laufbahn als Libertador erst, als seine junge Frau stirbt. „Für ihn war es eine historische Geburt, er war ein von mondänen Genüssen überwältigter kleiner Senorito ohne das geringste Interesse an der Politik, und von nun an wurde er ohne Übergänge zu dem Mann, der er für immer bleiben sollte.“ Eine solche Liebe kehrte nicht wieder, Geliebte hatte er 35. Frauen waren ihm so wichtig, daß er ihrem Charme zuliebe entscheidende Schlachten aufschieben konnte.

Simon Bolivar, eine Figur der von Garcia Marquez immer wieder beschriebenen lateinamerikanischen Karibik; ein Mann, der wunderbar fluchen kann und dem - so der Schriftsteller trotz allen aus Europa aufgesogenen Ideen der Aufklärung karibische Schicksalsergebenheit und Magie anhaftet. Das Schicksal ist vorprogrammiert: Ein dichtes Geflecht aus Vorahnungen, Erinnerungen und Gegenwart führt in den Fatalismus. Nur mit dem Aberglauben hat es der General nicht so sehr. Dabei befindet sich der Libertador in jener Grenzsituation, die Garcia Marquez schon immer beschäftigt hat: die Monate, Wochen und Stunden vor dem Tod eines Menschen.

„En que momento se jodio el Peru?“ - „In welchem Moment ist Peru vor die Hunde gegangen?“, ließ Mario Vargas Llosa in seinem Roman Gespräche in der Kathedrale fragen. Die politische Dimension des Generals in seinem Labyrinth ergibt sich aus Garcia Marquez‘ offenkundigem Versuch, die gleiche Frage für Kolumbien und Lateinamerika zu beantworten. Dabei bedient er sich vor allem der tatsächlich oft prophetisch anmutenden Vorahnungen Bolivars. „Dieses Land wird ohne Abhilfe einer entfesselten Menge und später kleinen, kaum wahrnehmbaren Tyrannen aller Farben und Rassen in die Hände fallen.“ „Jeder Kolumbianer ist ein feindliches Land für sich.“ - Da spricht nicht nur der verbitterte Bolivar, sondern auch der im Ausland lebende, von der allgegenwärtigen Gewalt in Kolumbien erschütterte Schriftsteller.

Nach langjährigem politischen Engagement enthält sich Garcia Marquez heute einer Meinung zur kolumbianischen Innenpolitik. Seine These: In Kolumbien spielt sich ein „Krieg der Desinformation“ ab, der jegliche, mit vermeintlichen Fakten abgesicherte Stellungnahme unsicher macht. Frühe Vorreiter der Informations- und Pressemanipulation - das belegt Garcia Marquez ausdrücklich in einer eindrucksvollen Passage - waren Bolivar und seine politischen Gegner.

Der Libertador hatte einen Traum: das vereinigte Lateinamerika. Der Traum war eine Utopie. Nicht nur wegen der von Garcia Marquez immer wieder unterstrichenen Kurzsichtigkeit seiner Mitstreiter, sondern vor allen Dingen auch, weil die spanische Krone jahrhundertelang ihre Kolonien in unabhängige Verwaltungseinheiten aufgesplittert hatte. Von diesen wirtschaftlichen und politischen Vorgaben konnten sich die befreiten Territorien nicht lösen. Nicht ein vereintes, sondern ein gespaltenes und zerrüttetes Lateinamerika mußte so dem europäischen und nordamerikanischen Imperialismus entgegentreten. Auch da hatte Simon Bolivar seine Vorahnungen: „Die Vereinigten Staaten sind allmächtig und furchtbar, und mit der Märchengeschichte der Freiheit werden sie uns noch ins Elend stürzen.“

Der Libertador war - das hebt Garcia Marquez, der ihn bewundert, nicht so hervor - ein Repräsentant der damaligen herrschenden Schichten, die in den Befreiungskriegen vornehmlich um die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Spanien kämpften. Die Kriege wurden oft zu Bürgerkriegen: Die herrschenden Schichten kämpften zumeist mit den Befreiungsarmeen, das gemeine Volk mitunter auf Seiten der Spanier. Als Bolivars General Manuel Piar, ein Mulatte, die Aristokratie in Frage zu stellen begann und bald das Volk um sich sammelte, ließ Bolivar ihn erschießen. Der Libertador bereute diesen Machtakt nie - auch in solchen Entscheidungen ließe sich der Anfang aller lateinamerikanischen Übel orten.

Der General in seinem Labyrinth ist ein guter Roman, allemal ein Lesevergnügen, aber vielleicht kein Meisterwerk. Garcia Marquez‘ Verdienst ist es, den Libertador allen Mythen zum Trotz mit seinen Widersprüchen als Menschen im Labyrinth der Macht darzustellen. Simon Bolivar - eine schöne und tragische Romanfigur. In seinen historischen Interpretationen erscheint der Roman oft blauäugig; das wird dem Erfolg keinen Abbruch tun. Letzten Endes ist Garcia Marquez‘ Libertador, wie ein kolumbianischer Feuilletonredakteur bemerkte, in vieler Hinsicht ein Simon Bolivar für Europäer.

Gabriel Garcia Marquez, El general en su laberinto, Mondadori Espana, 287 Seiten, etwa 30 DM