„Selbstbewußt Indikationen stellen“

Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, zum Paragraphen 218  ■ I N T E R V I E W

Zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe und drei Jahren Berufsverbot wurde letzte Woche der Frauenarzt Horst Theissen verurteilt. Für die Richter am Landgericht Memmingen hatte Theissen illegal Abtreibungen vorgenommen.

taz: Die Mehrheit auf dem 92. Deutschen Ärztetag hat es abgelehnt, sich mit dem verurteilten Frauenarzt Theissen zu solidarisieren. Ihre Begründung: Theissen habe gegen geltendes Recht verstoßen, um sich mit Abtreibungen zu bereichern.

Ellis Huber: Der Deutsche Ärztetag ist nicht die Gesamtheit aller Ärzte. Die Berliner Ärztekammer und die oppositionellen Listen in anderen Bundesländern haben sich mit Theissen solidarisiert und zu Spenden auf seinKonto aufgerufen. Sie repräsentieren zirka 30 bis 40 Prozent der bundesdeutschen Ärzteschaft.

Welche Konsequenzen zieht ihr aus dem Urteilsspruch?

Bayerische Landgerichte allein sind für uns nicht bindend. Wir halten uns an den Gesetzestext und an das Urteil des Bundesgerichtshofs von 85. Da wurde dem Arzt ein individueller Beurteilungsspielraum eingeräumt, wenn er eine Indikation feststellt. Dies ist zu vergleichen mit dem Stellen einer ärztlichen Diagnose, und da haben Richter nicht hineinzuregieren. Es hat immer einzelne wildgewordene Gerichte gegeben, deren Urteile letzlich nicht Bestand haben.

Welche konkrete Empfehlung gebt ihr an die KollegInnen?

Wir fordern alle ÄrztInnen auf, weiterhin selbstbewußt die Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch zu stellen und nach eigener Erkenntnis zu beurteilen. Das ist unsere Aufgabe und Pflicht als Ärzte. Wenn Richter sich anmaßen, das zu verurteilen, dann müßte sich der ganze Berufsstand wehren. Aber die Mehrheit macht das nicht, weil sie konservativ sind und der Richterspruch mit ihrer politischen Meinung übereinstimmt.

Aber auch diese konservativen Kollegen haben erkannt, daß das Durchschnüffeln von Patientenkarteien durch Staatsanwälte für sie gefährlich werden kann.

In ihrem Eiferertum haben die konservativen Ärzte diese Gefahr zuerst nicht wahrgenommen, sondern wurden durch uns darauf hingewiesen. Es ist ein grundsätzlicher Angriff auf das Arzt-Patienten-Verhältnis und die unverzichtbare Vertrauenssituation. Die Strafprozeßordnung ist an dieser Stelle lückenhaft und müßte nachgebessert werden. Es ist irrational, wenn das Schweigen des Arztes auf der Ebene des Gesetzes geschützt ist, aber auf der Ebene der Strafprozeßordnung durchbrochen wird.

Aber wie kann die einzelne Ärztin sich jetzt schützen?

Es gibt die Möglichkeit, daß die Ärztinnen ihre Dokumentationsweise an diese Gefahr anpassen. Es muß so dokumentiert werden, daß betroffene Frauen nicht verfolgt werden können. Das heißt, es muß festgehalten werden, daß die Sozialberatung stattfand, und die Indikationsentscheidung muß so dokumentiert sein, daß sie für eine ärztliche Kollegin oder die Ärztin selbst später wieder nachvollziehbar ist. Für einen Richter jedoch muß sie nicht nachvollziehbar sein.

Aber die Ärztin kann weiterhin verfolgt werden.

Gute Ärzte sind verpflichtet, sich im Konflikt zwischen Gesellschaft und Individuum auf die Seite des Individuums zu stellen. Das ist der zwingende Schluß aus unseren Erfahrungen mit der NS-Medizin. Der Arzt hat nach unserer Überzeugung nur das Recht, im Dialog zwischen werdendem Kind und Frau vermittelnd tätig zu werden. Es wäre frevelhaft, im Konflikt zwischen Gesellschaft und Mutter parteiisch für die Gesellschaft tätig zu werden.

Das Gespräch führte Gunhild Schöller

Sonderkonto der Humanistischen Union zur Unterstützung von Dr.Theissen: Sonderkonto Dr.Theissen, Bank für Gemeinwirtschaft München, Kto.-Nr. 1700678604, BLZ 70010111