Die Schattenseite des Wachstums

■ Bundestagshearing beschäftigt sich mit den Folgekosten des Wachstums / Aus Bonn Gerd Nowakowski

„...es wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt.“ Diese Volksweise ist bezeichnend für den Wachstumsfetisch der Nachkriegsära. So werden auch die Sanierungkosten des Wachstums unter der Steigerung des Bruttosozialprodukts gefaßt. Heute wird erstmals im Deutschen Bundestag über die Konsequenzen der gesetzlich verankerten Wachstumspolitik diskutiert.

Das Zusammentreffen ist zufällig, aber symbolträchtig: inmitten der Feierlichkeiten zum vierzigsten Geburtstag der Bundesrepublik steht heute im Bundestag erstmals eine der Säulen der Gesellschaft auf dem Prüfstand. Ist „stetiges und angemessenes Wachstum“ - wie es seit 1967 im eigens geschaffenen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz heißt -, noch ein „sinnvolles Ziel“?, fragen sich Abgeordnete und Sachverständige.

Die Grünen haben diese Anhörung beantragt und daß sie stattfindet, markiert einen der seltenen parlamentarischen Erfolge der Partei. Sie signalisiert zugleich eine wachsende Nachdenklichkeit auch in den anderen Parteien. Das simple Credo der „Ärmelaufkrempeln-und-zupacken-Generation“ der Nachkriegszeit, der Schornstein müsse rauchen, damit das Bruttosozialprodukt steigt, stimmt längst nicht mehr. „Hinter den schönen Wachstumszahlen verbergen sich häufig eklatante Fehlentwicklungen“, kritisiert Wolfgang Bayer, Mitarbeiter der Grünen im Wirtschaftsbereich die „naive Interpretation der Sozialproduktsrechnung“. „Der alarmierende Anstieg ökologischer und sozialer Folgekosten erscheint in der Wachstumsbilanz als wohlfahrtssteigernd, indem Reparaturkosten als Wohlstandsmehrung erfaßt werden“, heißt es im Antrag für das Hearing.

Der Einsatz von Kapital und Arbeit wird in der gesamtgesellschaftlichen Bilanzierung erfaßt, nicht aber der Raubbau an der Natur mit seinen verheerenden Folgen. Umweltschäden werden als gesellschaftliche Kosten der Produktion nicht berücksichtig; ungeachtet der Zerstörung unserer Lebensbedingungen. Waldsterben, Bodenvergiftungen, das Austerben von Pflanzen- und Tierarten und die Zunahme von umweltbedingten Erkrankungen werden in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung unterschlagen. Nur wenn die Beseitigung von bereits eingetretenen Schäden Geld kostet, erscheint das im Sozialprodukt - als positive Leistung. „Es ist aber offensichtlich Unsinn, Kosten als Gewinne und Lasten als Wohlstandssteigerungen in das Sozialprodukt aufzunehmen“, sagt Wolfgang Bayer.

Die Fraktionen von CDU und FDP unterstützten Anfang des Jahres nach langem Gefeilsche die Expertenanhörung. Welches Kuckucksei die Regierungskoalition sich damit ins Nest gelegt hat, scheint der Fraktionsführung erst hinterher aufgegangen zu sein. Darauf deutet jedenfalls bekanntgewordener Unmut aus der CDU hin. Nicht unwesentlich beteiligt am Zustandekommen der Anhörung war hinter den Kulissen der CDU-Querdenker Kurt Biedenkopf. „Gesellschaften, die dauernd expandieren müssen, sind nicht dauerhaft lebensfähig, weil sie die Umweltbasis und damit letztlich sich selbst gefährden“, hatte dieser bereits vor längerem erkannt. Welche Konflikte es offensichtlich bei der CDU gab, dokumentiert die Auswahl der Fragen an die 25 Gutachter. Zunächst akzeptierten die Vertreter der Regierungskoalition im Wirtschaftsausschuß die kritische Fragestellung der Grünen. Erst Wochen später gab es einen Kurswechsel. Die Frage, ob „stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum angesichts der ökologischen Probleme noch ein sinnvolles Ziel“ sei, wollten sie so nicht mehr stehen lassen: diese Frage sei wertend. Nun wird ganz „wertfrei“ nach der Bedeutung des Wachstums gefragt.

Die Gralshüter der Wachstumsideologie, die „fünf Weisen“ des Sachverständigenrats der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung lassen in ihrer vorliegenden Stellungnahme keine Zweifel aufkommen: „Umweltschutz erfordert wirtschaftliches Wachstum“, erklären sie bündig und verweisen darauf, es werde „bei anhaltend kräftigem Wachstum leichter fallen, weitere Verbesserungen des Umweltschutzes durchzusetzen“. Die Gutachter der Kapitalfraktion vom „Institut der deutschen Wirtschaft“ und der „Deutsche Industrie und Handelstag“ (DIHT) stimmen dem zu. Man gehe davon aus, „daß die Vorstellung von der Optimalität des Wachstumsprozesses heute auch die schonende Inanspruchnahme der Umwelt einschließt“, heißt es schlitzohrig beim DIHT. Folgerichtig abgelehnt wird von allen eine Einbeziehung der Umweltschäden in die Gesamtbilanzierung. Damit würden die Zahlen des Bruttosozialprodukts als Ausdruck eines „umfassenden und relativ schnell verfügbaren Konjunkturindikator(s) wertlos“, sorgen sich die Unternehmer.

Der „umweltpoltitische Informationsgewinn dieser Quantifizierungsversuche (der Folgekosten d.Red.) ist mehr als begrenzt , vertritt das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft. Gerüffelt wird darüber hinaus die systemverändernde Subversivität in der Fragestellung: sie „stellt die Kritik am Wirtschaftswachstum und am kapitalistischen Wirtschaftssystem in den Vordergrund“. Diese Sichtweise führe zu einer „ökonomisch falschen Bewertung“. So verwundert kaum, daß eine Berücksichtigung der ökologischen und sozialen Folgenkosten als „unzweckmäßig“ abgetan wird.

Andere Töne schlägt die „Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik“ an, die seit vielen Jahren die offiziellen Sachverständigen mit einem Gegengutachten konterkarieren. Professor Jan Priewe hält das Wachstumsgesetz als „Relikt der Wirtschaftswunder-Zeiten“ mit seinem „längst überholten einseitigen und globalen Wachstumsdenken“ für „dringend novellierungsbedürftig“. Die Alternativ-Gutachter wollen die Umweltverträglichkeit als gleichrangiges Gesetzesziel verankert wissen. Als „offensichtlich unsinnige und auch unwirtschaftliche Strategie geißeln sie die Position der Kapitalvertreter, mit genügend Wachstum würde eine nachträgliche Beseitigung von Umweltschäden bezahlbar“. Vorsorge sei billiger als Schadensbeseitigung; außerdem seien viele Schäden überhaupt nicht mehr reparabel, wird den Unternehmern entgegengehalten.

Der Schweizer Ökonom Professor Binswanger pflichtet dem bei. Es gebe „keinerlei überzeugende empirische Belege dafür, daß gerade Wirtschaftswachstum zu umweltentlastenden Stukturverschiebungen und zu umweltfreundlichen technischen Neuerungen geführt hat“, schreibt Binswanger in seiner Stellungnahme für den „Bund für Umwelt und Naturschutz“ (BUND). Dies sei bislang vielmehr auf politische Vorgaben des Staates zurückzuführen. Binswanger plädiert für die Entwicklung einer „ökologischen Buchhaltung sowie die Verursacherhaftung“. Die von der Industrie angeführten fehlenden Kenntnisse zwischen Folgeschäden und Verursacher läßt er nicht gelten. Was fehlt, seien nicht das Wissen, als „vielmehr politische Konseqenzen aus diesen Erkenntnissen“.

Wie dem schädlichen Wachstum beizukommen ist, ist natürlich umstritten. Für die Alternativ-Gutachter und für den BUND ist die Sache klar: sie plädieren für eine strenge Durchsetzung des Verursacherprinzips, die Einführung von Schadstoffabgaben und ökologisch begründete Steuern sowie eine Reform des Haftungsrechts mit der Beweislastumkehr zugunsten der Bevölkerung. Der Direktor des Umweltbundesamtes, Professor Lutz Wicke, befürwortet ebenfalls die Verschärfung einer Umwelthaftung. Marktwirtschaftliche Instrumente seien rechtlich -administrativen Verboten eindeutig überlegen, angesichts der vielen Gefährdungsbereiche, die dann überwacht werden müßten. Auch die Industrie erklärt sich für das Verursacherprinzip - freilich mit der zielbewußten Einschränkung, eine Zuordnung von Schäden und Schädiger sei kaum herzustellen. „Der Gesetzgeber ... sollte sich auf ein so diffiziles Terrain nicht begeben“, warnt das Kieler Institut für Weltwirtschaft, um dann eine besonders originelle Lösung anzubieten: „Es kann sinnvoll sein, daß auch der Geschädigte die Kosten der Schadensvermeidung trägt.“ Trickreich auch die Empfehlung der Kieler, das Zurechnungsproblem mit einem preiswerten gesetzlichen Recht auf unversehrte Umwelt auf den Bürger abzuwälzen. Das Problem des „potentiellen Mißbrauchs solcher Rechte dürfte wegen des Prozeßrisikos im Einzelfall und der entstehenden Gerichtskosten gering zu veranschlagen sein“, heißt es in der Stellungnahme des Kieler Weltwirtschaftsinstituts.

Deutlich abgesetzt von den Industrievertretern agiert Umweltbundesamts-Chef Wicke. Der Christdemokrat, der auch den christlichen Sozialausschüssen ihr Umweltprogramm geschrieben hat, hält es ebenfalls für notwendig, die Umweltverträglichkeit ins Wachstumsgesetz aufzunehmen. Er mahnt außerdem eine andere Wachstumsphilosophie für die „ökosoziale Marktwirtschaft“ an: Wirtschaftswachstum dürfe nicht gleichgesetzt werden mit einer „Wohlstandszunahme, da dann qualitative und auch ökologische Aspekte vernachlässigt würden“. Wicke hält auch die Berechnung der negativen Folgekosten des Wachstums in vielen, allerdings nicht in allen, Fällen für möglich. Eine regelmäßige Bilanzierung der Probleme der Umweltpolitik, „auch in Form von monetarisierten Umweltschadensermittlungen, erscheint außerordentlich sinnvoll“, betont Profesor Wicke deutlich im Gegensatz zur Industrie. Die nämlich erwartet von einer solchen Bilanz „keine zusätzlichen Erkenntnisse“.