: „Der Nationalismus ist eine Kollektivneurose“
Der spanische Philosoph Savater über die Gewaltspirale, die Radikalisierung und die soziale Krise im Baskenland ■ I N T E R V I E W
Fernando Savater ist einer der bekanntesten spanischen Philosophen. Über die Gewalt im Baskenland hat er mehrere Essays verfaßt. Er lehrt an der Universität von San Sebastian Ethik. Savater ist im Baskenland aufgewachsen.
taz: Was ist das Hauptproblem, das heute eine Befriedung des Baskenlands verhindert?
Fernando Savater: Das eigentliche Problem liegt in der Existenz einer bewaffneten Organisation wie der ETA, die die Gründe überlebt, die sie einmal hervorgebracht haben. Im Baskenland mag es Motive für Unzufriedenheit geben, aber die Beibehaltung einer Kriegssituation, gerade so als ob es keine anderen Möglichkeiten gäbe, verfälscht völlig die Situation.
Es sieht aber so aus, als ob diese politische Kraft im Aufschwung begriffen wäre.
Die Partei „Herri Batasuna“ hat eine gewisse Unterstützung im Baskenland, die sie vermutlich ohne die ETA nicht so erhalten könnte.
Warum wird „Herri Batasuna“ gewählt?
Alle Gewaltsituationen bringen Wunden mit sich. Jeder mag hier jemanden kennen, der verhaftet worden ist, der im Knast gesessen hat, der vielleicht sogar gefoltert worden ist. Das schafft natürlich ein Klima ständig wachsender Spannungen, so daß sich mit den Jahren auch die politischen Forderungen radikalisieren. Außerdem gibt es eine Art Feedback: Ende der 50er Jahre, als all dies begann, war das Baskenland eine der blühendsten Gegenden Spaniens. Jetzt gibt es Arbeitslosigkeit, und die Wirtschaftskrise nimmt zu, denn keiner will im Baskenland investieren. Das heißt, die soziale Situation wird immer schwieriger. Diese Situation, die durch den Terrorismus entstanden ist, findet keine andere Entwicklung als die der Radikalisierung. Umfragen zufolge legt „Herri Batasuna“ vor allem bei den Erstwählern zu, die ihre Zukunft versperrt sehen und die, um ihre Wut abzulassen, diejenigen wählen, von denen sie wissen, daß es das System am meisten schmerzt.
„Herri Batasuna“ nimmt für sich in Anspruch, von allen Gruppen am meisten für die Wiederaufwertung der baskischen Kultur getan zu haben. Was denken Sie darüber?
Es ist unbestreitbar, daß die Leute von „Herri Batasuna“ für die baskische Sprache und die baskischen Schulen etc. gekämpft haben. Doch worum ging es ihnen dabei wirklich? Um die baskische Entwicklung oder um eine Definition des Baskischseins, die den anderen aufgezwungen wurde? Wenn eine Sprache nicht mehr Instrument für jedweden Inhalt ist, sondern zum Träger von bestimmten ideologischen Inhalten wird, wenn Baskisch reden bedeutet, bestimmte Dinge zu sagen, dann verliert die Sprache ihre Universalität und haftet an der konkreten Ideologie. Das heißt, wer diese Ideologie ablehnt, lehnt auch die Sprache ab. Mir scheint, daß der kulturelle Nutzen, den die nationalistische Entwicklung mit sich gebracht hat, beispielsweise darin besteht, daß dieses Land von seiner eigenen Identität besessen ist, daß es durch das nationalistische Problem ein wenig „khomeinisiert“ worden ist. Der Nationalismus hier ist eine Art Kollektivneurose.
Worin besteht der Nationalismus hier?
Der Nationalismus, der Ende des vergangenen Jahrhunderts von Sabino Arana (Gründer der konservativen baskischen Partei PNV, d.Red.) erfunden wurde, war eine Reaktion auf die Invasion der Gastarbeiter. Hier kannte jeder jeden, alle gehörten gewissermaßen zur selben großen Familie, und plötzlich, mit der industriellen Entwicklung, kamen dunkle, kleingewachsene Menschen aus Andalusien hierher. Das hat ein nationalistisches Bewußtsein geschaffen. Sabino Arana definierte den typischen Spanier als einen faulen, trinksüchtigen Schürzenjäger, während der Baske ein arbeitsamer, ernsthafter und religiöser Mensch ist. Aus dem Gefühl der Überlegenheit wurde durch die frankistische Repression später ein Opfergefühl. Es hat hier nie einen geeinten Staat gegeben, nie eine Einheit zwischen den Basken hier und denen auf der französischen Seite. Statt jedoch zuzugeben, daß dieser Nationalismus eine neue Erfindung ist, über die man sich ja durchaus unterhalten könnte, wird er als Fortsetzung eines uralten Rechts dargestellt, und das ist völlig mythisch, völlig falsch.
Interview: Antje Bauer
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