Die Großaufnahme

■ Wir danken dem Suhrkamp-Verlag für die freundlich erteilte Genehmigung zum Vorabdruck

Gilles Deleuze

Psychoanalyse und Linguistik legen die Vorstellung nahe, die Großaufnahme führe uns ein Partialobjekt vor, das von einer Gesamtheit getrennt oder aus einer Gesamtheit, von der es einen Teil ausmachte, herausgerissen worden wäre. (...) Die eine meint im Bild eine Struktur des Unbewußten (Kastration) zu entdecken, die andere ein grundlegendes Verfahren der Sprache (Synekdoche, pars pro toto). Sobald sich die Kritiker die Vorstellung des Partialobjekts zu eigen machen, sehen sie in der Großaufnahme das Kennzeichen einer Zerstückelung oder eines Bruchs, wobei die einen meinen, sie müsse wieder mit der Kontinuität des Films versöhnt werden, und die anderen, sie sei eher der Beleg für eine dem Film wesentliche Diskontinuität. Tatsächlich hat aber die Großaufnahme - die Großaufnahme des Gesichts - nichts mit einem Partialobjekt zu tun (außer in einem Fall, den wir später betrachten werden). Wie Balazs bereits sehr genau zeigte, entreißt die Großaufnahme ihr Objekt keineswegs einer Gesamtheit, zu der es gehörte, deren Teil es wäre, sondern - und das ist etwas ganz anderes - sie abstrahiert von allen raumzeitlichen Koordinaten, das heißt sie verleiht ihm den Status einer Entität. Die Großaufnahme ist keine Vergrößerung, auch wenn sie eine Größenveränderung impliziert; sie ist eine absolute Veränderung, Mutation einer Bewegung, die aufhört, Ortsveränderung zu sein, um Ausdruck zu werden. „Der Ausdruck eines isolierten Antlitzes... ist in sich selbst geschlossen und verständlich, man muß sich nichts hinzudenken, weder im Raum noch in der Zeit. Haben wir das Gesicht soeben noch inmitten einer Masse gesehen und wird es dann gesondert hervorgehoben, dann ist es, als wären wir plötzlich mit ihm unter vier Augen allein. Sahen wir es auch vorher in einem großen Raum, so werden wir dennoch, wenn wir dann während der Nahaufnahme in dieses Gesicht blicken, nicht an jenen Raum denken. Denn der Ausdruck dieses Gesichtes und die Bedeutung dieses Ausdrucks hat keinerlei räumliche Beziehung oder Verbindung. Einem isolierten Antlitz gegenüber fühlen wir uns nicht im Raum. Unser Raumempfinden ist aufgehoben. Eine andersgeartete Dimension erschließt sich...“ Eben das meinte Epstein, als er schrieb: Sobald wir das Gesicht eines Feiglings, der sich anschickt zu fliehen, in Großaufnahme sehen, sehen wir die Feigheit in Person, das „Gefühl als Sache“, die Entität. Wenn es zutrifft, daß das Filmbild immer deterritorialisiert ist, dann gibt es also eine ganz spezielle Deterritorialisation, die des Affektbildes. Und eben das kritisierte Eisenstein an den anderen, an Griffith oder Dovzenko, als er ihnen vorwarf, ihre Großaufnahmen zu verpfuschen, weil sie ihnen Angaben zu den raumzeitlichen Gegebenheiten eines Ortes bzw. Augenblicks beließen, ohne das in der Ekstase oder im Affekt erfaßte „pathetische“ Element (wie er es selbst nannte) zu erreichen.

Merkwürdigerweise bestreitet Balazs anderen Großaufnahmen das, was er dem Gesicht zugesteht: Eine Hand, eine Körperpartie oder ein Objekt bleiben unwiderruflich im Raum und werden so nur als Partialobjekte zu Großaufnahmen. Das aber hieße, sowohl die Beständigkeit der Großaufnahme in allen ihren Spielarten als auch die Ausdruckskraft eines beliebigen Objektes zu verkennen. Zunächst einmal gibt es vielerlei Möglichkeiten, ein Gesicht in Großaufnahme zu zeigen: entweder die Konturen oder einzelne seiner Züge; ein einzelnes Gesicht oder mehrere, nacheinander oder gleichzeitig. Eventuell haben sie einen Hintergrund, vor allem bei Anwendung der Tiefenschärfe. Aber für all diese Fälle behält die Großaufnahme ihre Kraft, das Bild aus seinen raumzeitlichen Koordinaten zu lösen, um den reinen Affekt in seinem Ausdruck zu zeigen. Auch der im Hintergrund noch gegenwärtige Ort verliert seine Koordinaten und wird „beliebiger Raum“ - was den Vorwurf Eisensteins einschränkt. Ein Gesichtszug ist nicht weniger eine vollständige Großaufnahme als ein ganzes Gesicht. Er ist nur eine andere Seite des Gesichts. Was ein Zug an Intensität ausdrückt, gibt das ganze Gesicht an Charakteristischem wieder. Infolgedessen gibt es keinerlei Unterschied zwischen Großaufnahmen und Detailaufnahmen oder „Inserts“, die nur eine Gesichtspartie zeigen. In der Mehrzahl der Fälle gibt es genausowenig einen Unterschied zwischen Halbnah, amerikanischer Einstellung und Großaufnahme. Wieso sollten Körperteile wie Kinn, Magen oder Bauch in höherem Maße unvollständig, raumzeitlich gebunden und weniger ausdrucksvoll sein als ein intensiver Gesichtszug oder ein ganzes reflexives Gesicht? So die Reihe der fetten Kulaken in Staroe i novoe von Eisenstein. Und warum sollte der Ausdruck nicht bis in die Dinge reichen? Es gibt dingliche Affekte. Das „Zerteilende“, „Schneidende“ oder eher „Durchdringende“ des Messers von Jack the Ripper ist nicht weniger ein Affekt als das Entsetzen, das sich seiner Züge bemächtigt, und die Resignation, die sich schließlich über sein ganzes Gesicht ausbreitet. Die Stoiker haben gezeigt, daß die Dinge selbst Träger eines ideellen Geschehens sind, das nicht mit den Eigenschaften, Einwirkungen und Reaktionen der Dinge zusammenfällt: das Schneidende eines Messers...

Der Affekt ist eine Entität, das heißt Potential oder Qualität. Er wird ausgedrückt: Der Affekt existiert nicht unabhängig von etwas, was ihn ausdrückt, auch wenn er sich völlig von ihm unterscheidet. Was ihn ausdrückt, ist ein Gesicht, das Äquivalent eines Gesichts (ein in ein Gesicht verwandeltes Objekt) oder sogar ein Satz, wie wir später sehen werden. Man nennt „Ikon“ das Ensemble von etwas Ausgedrücktem und seinem Ausdruck, von Affekt und Gesicht. Es gibt also Ikons einzelner Züge und Ikons von Konturen, oder vielmehr hat jedes Ikon diese beiden Seiten: Es ist das Zeichen der zweipoligen Zusammensetzung des Affektbildes. Das Affektbild ist die Potentialität oder die Qualität als solche betrachtet, das heißt als Ausgedrücktes. Gewiß können Potentialitäten und Qualitäten noch in ganz anderer Weise vorkommen, aktualisiert und in bestimmten Zuständen verkörpert. Ein solcher Zustand beinhaltet eine raumzeitliche Festlegung, Raum-Zeit-Koordinaten, Objekte und Personen, reale Verbindungen zwischen all diesen Gegebenheiten. In einem Zustand, der sie aktualisiert, wird die Qualität zum „Quale“ eines Objekts, die Potentialität zum Handeln oder erleiden; der Affekt erscheint als Reiz, Empfindung, Gefühl oder sogar Trieb in einer Person, das Gesicht als ihr Charakter oder ihre Maske (nur unter diesem Gesichtspunkt kann sein Ausdruck täuschen). Allerdings sind wir damit nicht mehr im Bereich des Affektbildes, wir befinden uns bereits im Bereich des Aktionsbildes. Das Affektbild ist dagegen von Raum-Zeit-Koordinaten, die es an einen bestimmten Zustand binden könnten, abgelöst und löst seinerseits das Gesicht von der Person, zu der es in einem aktualisierten Zustand gehört. (...)

Ohne Zweifel ist Bergman der Autor, der am meisten auf der grundsätzlichen Verbindung bestanden hat, die den Film, das Gesicht und die Großaufnahme vereint: „Unsere Arbeit beginnt mit dem menschlichen Antlitz... In der Möglichkeit, dem Gesicht des Menschen näherzukommen, liegt die ursprüngliche und wesentliche Eigentümlichkeit des Films.“ Ein Mensch gibt seinen Beruf und seine gesellschaftliche Rolle auf; er kann und will sich nicht mehr mitteilen und legt sich ein fast vollständiges Stillschweigen auf; er entindividualisiert sich sogar so weit, daß er eine befremdliche Ähnlichkeit mit jemand anderem annimmt: eine Ähnlichkeit aus einem Mangel oder aus einer Abwesenheit. Tatsächlich setzen diese Funktionen des Gesichts voraus, daß ein bestimmter Zustand aktualisiert ist, in dem die Personen handeln oder wahrnehmen. Das Affektbild läßt sie zerfließen, verschwinden. Man wird darin ein Szenario von Bergman erkennen. Es gibt keine Großaufnahme des Gesichts. Die Großaufnahme ist das Gesicht, allerdings genau in dem Maße, wie es seine dreifache Funktion aufgegeben hat: seine Nacktheit ist größer als die der Tiere. Schon der Kuß zeugt von der vollständigen Nacktheit des Gesichts und ruft auf ihm Mikrobewegungen hervor, die der Körper sonst verbirgt. Aber mehr noch macht die Großaufnahme aus dem Gesicht ein Gespenst und liefert es den Gespenstern aus. Das Gesicht ist der Vampir, und die Briefe sind seine Fledermäuse, seine Ausdrucksmittel. Im Nattvardsgästerna „spricht die Frau im Vordergund die Sätze eines Briefes, ohne sie zu schreiben, während ihn der Pastor liest“, und in Höstsonaten „verteilt sich der Text des Briefs zwischen der, die ihn schreibt, ihrem Gatten, der von ihm Kenntnis erhält, und dem, für den er bestimmt ist und der ihn noch nicht bekommen hat“. Die Gesichter konvergieren, leihen sich ihre Erinnerungen aus und verlieren tendenziell ihre Grenzen. Vergeblich fragt man sich in Persona, ob es sich um zwei Personen handelt, die sich vorher ähnlich waren, oder ob es sich im Gegenteil um eine Person handelt, die sich verdoppelt. In Wirklichkeit geht es um etwas anderes. Die Großaufnahme hat das Gesicht nur bis in Regionen getrieben, in denen das principium individuationis seine Geltung verliert. Sie verschmelzen nicht deswegen, weil sie sich ähnlich sehen, sondern weil sie die Individuation ebenso wie ihre Sozialisation oder Kommunikation verloren haben. Das ist die Wirkungsweise der Großaufnahme. Die Großaufnahme verdoppelt kein Individuum und vereinigt auch nicht zwei: Sie suspendiert die Individuation. So vereint ein einzelnes verwüstetes Gesicht einen Teil des einen mit einem Teil des anderen. An diesem Punkt reflektiert es nicht und spürt nichts mehr außer einer blinden Angst. Es absorbiert zwei Wesen und läßt sie im leeren Raum verschwinden. In der Leere ist es dann selbst das brennende Photogramm mit der Angst als einzigem Affekt: Die Großaufnahme des Gesichts ist das Angesicht (la face) und seine Auslöschung (effacement) zugleich. Bergman hat den Nihilismus des Gesichts am weitesten getrieben, das heißt sein Verhältnis zur Leere und Abwesenheit in der Angst, der Angst des Gesichts angesichts des Nichts. In einem ganzen Bereich seines Oeuvres stößt Bergman an die äußersten Grenzen des Affektbildes vor, er verbrennt das Ikon, er verzehrt und löscht das Gesicht genauso bestimmt aus, wie Beckett es tut. Ist das der Weg, auf den uns die Großaufnahme als Entität unvermeidlicherweise führt? Die Gespenster sind für uns um so bedrohlicher, als sie nicht aus der Vergangenheit kommen. Kafka unterschied zwei gleichermaßen moderne Entwicklungslinien der Technik: auf der einen Seite die räumlichen Kommunikationsmittel, die uns in den Raum versetzen und uns ihn erobern lassen (Schiff, Auto, Zug, Flugzeug...); auf der anderen Seite die expressiven Kommunikationsmittel, die die Gespenster auf unsere Bahn locken und uns zu unkoordinierten Affekten, zu Affekten außerhalb aller Koordinaten verleiten (Briefe, Telefon, Radio, alle nur vorstellbaren „Sprechgeräte“ und Kinematographen). Das war keine Theorie, sondern die tägliche Erfahrung Kafkas: Bei jedem Brief, den man schreibt, trinkt ein Gespenst die Küsse aus, bevor er ankommt, vielleicht sogar bevor er abgeht, so daß man schon wieder den nächsten schreiben muß. Aber was soll man tun, damit die beiden korrelativen Reihen nicht auf das Schlimmste hinauslaufen? Während die eine sich einer Bewegung überläßt, die zunehmend militärische und polizeiliche Züge annimmt, Personen wie Marionetten behandelt und in erstarrte gesellschaftliche Rollen, in Charakterschablonen zwängt, steigert sich in der anderen die Leere und zeichnet die überlebenden Gesichter mit ein und derselben Angst. Im Werk von Bergman lassen sich diese beiden Dimensionen bereits bis in ihre politischen Aspekte vorfinden (Skammen, Das Schlangenei, The Touch), aber auch in der deutschen Schule, die das Projekt eines Kinos der Angst fortführt und erneuert. Innerhalb dieser Perspektive macht Wenders den Versuch, die beiden Entwicklungslinien zu versetzen und zu versöhnen: „Ich habe Angst vor der Angst.“ Häufig findet sich bei ihm eine aktive Reihe, wo sich Ortsveränderungen verwandeln und vertauschen: Zug, Auto, Flugzeug und Schiff...; immerzu unterbrochen von und vermischt mit einer Affektreihe, in der die Ausdrucksgespenster mit Gedrucktem, mit Photographie und Kinematographie herbeigerufen und beschworen werden. Die Initiationsreise in Wenders‘ Im Lauf der Zeit führt über die Gespenstermaschinen der alten Druckerei und des ambulanten Kinos. Die Reise von Alice in den Städten wird derart von Polaroidfotos skandiert, daß die Filmbilder im selben Rhythmus verschwinden, bis zu dem Augenblick, in dem das Mädchen sagt: „Du machst keine Photos mehr?“, auf die Gefahr hin, daß die Gespenster eine andere Gestalt annehmen.

Kafka schlug Mischungen vor, Gespenstermaschinen auf Fortbewegungsmitteln; für seine Zeit war das ganz neu, das Telefon im Zug, Post auf einem Schiff, Kino im Flugzeug. Ist das nicht auch die ganze Geschichte des Films: die Kamera auf der Schiene, auf dem Fahrrad, die Luftbildkamera? Und das will Wenders, wenn sich in seinen frühen Filmen beide Reihen durchdringen. So gut es eben geht, könnten sich das Affektbild und das Aktionsbild gegenseitig stützen. Aber gibt es nicht noch einen anderen Weg zur Rettung des Affektbildes und zur Erweiterung der ihm eigenen Grenzen (wie er in The American Friend von Wenders skizziert wird)? Die Affekte müßten einzigartige, mehrdeutige und immer wieder neue Kombinationen bilden, und zwar so, daß die aufeinander bezogenen Gesichter sich gerade so weit voneinander abwenden, daß sie nicht zerfließen und verschwinden. Die Bewegung hingegen müßte den jeweiligen Stand der Dinge überschreiten und die Fluchtlinien gerade so weit verfolgen, um im Raum eine neue Dimension zu erschließen, die solchen Affektkompositionen offenstünde. Das ist das Affektbild: Seine Grenzen findet es am einfachen Angstaffekt und am Verlöschen der Gesichter im Nichts. Aber seine Substanz ist der aus Begehren und Verwundern zusammengesetzte Affekt, der ihm Leben verleiht, und die Wendung der Gesichter zum Offenen, zum Lebendigen.

Gilles Deleuze, Das Bewegungsbild - Kino 1, übersetzt von Ulrich Christian und Ulrike Bokelmann, Suhrkamp-Verlag, 360 Seiten, ca. 48 DM