Ideologischer Ballast geht über Bord

■ Das Bonner Kabinett kürzt die Hilfen für Aussiedler aus dem Osten

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Jedes Jahr zu Weihnachten brav die Kerzen in die Fenster gestellt für die armen Brüder und Schwestern im Osten; eine Generation lang auf „Vertriebenentagen“ die deutschen „Ostgebiete“ zurückgefordert; immer wieder die unter der „Knechtschaft totalitärer Regime“ lebenden Deutschen heim in die Bundesrepublik gerufen: wahrlich, mit der Situation der Deutschen in der DDR und osteuropäischen Staaten ließ sich vorzüglich rechte Stimmung machen. Da ist es schon atemberaubend zu beobachten, wie jetzt eine konservative Bundesregierung allein unter dem Druck finanzieller und sozialer Probleme hektisch diesen ideologischen Ballast über Bord schmeißt.

Denn auch wenn die Bonner Politiker es nicht eingestehen werden: Mit ihren gestern verkündeten Kabinettsbeschlüssen haben sie sich unfreiwillig vom Bild der Aussiedler als deutsche Staatsbürger verabschiedet. Wohnungsnot, leere Gemeinde- und Arbeitsamtskassen und ausgerechnet rechtsnational gesinnte Wählerschichten haben die guten Deutschen aus dem Osten zu statusrechtlichen Zwittern gemacht: Aussiedler werden zwar auch in Zukunft keine Ausländer sein. Sie unterliegen keinen Zuzugs- und Arbeitsbeschränkungen und bekommen eine soziale Absicherung. Aber sie werden formal auch keine „richtigen“ Deutschen mehr sein können, denn sonst dürfte man ihnen nicht - wie jetzt beschlossen - das Grundrecht auf freie Wahl des Wohnortes und den Rechtsanspruch auf Sozialhilfe egal an welchem Ort versagen.

Juristisch ist der Kabinettsbeschluß ein verfassungsrechtlicher Amoklauf, der den Politikern noch einige schlaflose Nächte bereiten wird. Politisch ist er ein hilflos pragmatischer Eiertanz, der jedoch eine Chance enthält. Schon längst ist menschlich und politisch nicht mehr einsichtig, warum Menschen, die über Generationen hinweg in einem fremden Land, an der Wolga oder in Kasachstan gelebt haben, Deutsche sein sollen, während türkische Jugendliche, die in Wanne-Eickel oder Passau aufgewachsen sind, ihr Leben lang das Etikett „Ausländer“ tragen. Die Befreiung der Aussiedlerproblematik von ideologischem deutschtümelndem Ballast könnte vielleicht endlich den Blick dafür schärfen, daß Aussiedler genauso wie Ausländer keine politische Manövriermasse sind, sondern Menschen - Menschen, die viele gute Gründe hatten, ihre Heimat zu verlassen und in der Bundesrepublik leben zu wollen. Für diese Wahl ihres neuen Lebensmittelpunktes bedürfen sie keiner Belohnung und keines besonderen Anreizes, aber auch keiner Bestrafung. Und wenn sie mit ihrem Alltag nicht zurechtkommen, brauchen sie, genau wie Hans Meier und Lieschen Müller, eben auch staatliche Hilfe. Das müssen vielleicht auch Linke in der Bundesrepublik lernen, die Aussiedlern bisher häufig mit verdeckten oder offenen rassistischen Ressentiments begegnen und deren Verhältnis zu den Fremden aus dem Osten auf umgekehrte Weise genauso ambivalent ist wie das der Bonner Politiker.

Vera Gaserow