TIEF GEFÜHLT

■ „Die, der und...“ Drei Stückchen vom Kuchen schneidet das Theater im Seitenschiff

Mitte der siebziger Jahre in der bundesdeutschen Provinz, abgeschnitten von sämtlichen Kultur-Sublimations -Serviceleistungen wie Konzerten von Liedermachern, Therapiegruppen und beschützenden Szenecafes, fand die erkältete Seele eines bürgerlichen, pubertierenden Gymnasiasten sich häufig in privaten, ungeheuer offenen und intensiven Gesprächskreisen wieder. Im Schneidersitz auf dem beigefarbenen Teppichboden des Jugendzimmers, ums Teestövchen herum, bei Räucherstäbchen und Kerzenschein wurde gemeinsam tief gefühlt und inniglich empfunden. Das ist jetzt ein paar Jahre her. In den Geschenk- und Mitbringläden für die Klassenreisen entlang des Kudamms wird noch immer mit den gleichen Accessoires Umsatz gemacht. In Kreuzberg wird Theater gespielt.

Aus dem aufrechten Geist der selbsttherapeutischen Gruppensitzungen heraus, sich selbst zu erforschen, auf die eigenen Gefühle einzulassen - auch die schlechten - und diese dann für wertvoll und mitteilsam zu halten, agieren die ausdauerndsten Workshopteilnehmer jetzt als „Schauspieler“ auf der Bühne des Theaters im Seitenschiff. Im ersten der drei Stückchen, das der Autor, Regisseur und Workshopleiter Wolfgang Mentzel aus unerfindlichen Gründen Mein Püppchen, mein Kuchen, mein Weihnachtsbaum nennt, liegt die Thematik auf der Schwelle zum Erwachsenwerden.

Vor einem großen Spiegel sitzt im hydraulisch gehobenen Friseurstuhl ein Mann, dem eine kleine burschikose Frau die Haare abschneidet. Sonst geschieht über Minuten nichts. Aus den Lautsprecherboxen dröhnt ein Potpourri aus klassischer Power-Musik: vom Weihnachtsoratorium über die Königin der Nacht bis zu Wagner. Die Friseuse schneidet ihrem Opfer immer heftiger an der Haarperücke herum, wirft die Büschel aggressiv zu Boden, und langsam steht wie vom Werbeflugzeug gezogen über allen Wipfeln im Raum „Kastration!“. Der Mann geht, der nächste kommt, das war Mein Püppchen, mein Kuchen, mein Weihnachtsbaum.

Im zweiten Stück zeigt man uns wieder ganz ohne Worte das große Gefühl des Begehrens. Von zwei vereinzelten Tischen aus schmachten sich zwei Restaurantgäste über zwanzig Minuten an und verschlingen anschließend, als Ersatzhandlung, italienische Spaghetti. Dazu paßt zwingend oder wie die Faust aufs Auge Vivaldis Vier Jahreszeiten.

Im letzten Fühl-Stück brechen am Frühstückstisch die verdrängten Aggressionen in der Ehe aus. Plötzlich, scheinbar grundlos, beginnt der verstockte Ehemann, seine ignorant trällernde Ehefrau zu bespucken. Von ihrer Verblüffung erholt sie sich mit dem Publikum gemeinsam. Über „Du, ich mag das nicht“ und „Ich werd jetzt sauer“ entschließt sie sich zur allgemeinen Genugtuung des sämtlich emanzipierten weiblichen Publikums zurückzuspucken. Da qualmt das Räucherstäbchen!

So hat diese Bühnenaktion eindeutig geschafft, was ihr Hauptziel zu sein scheint: sich emotional ganz tief einzulassen und auszuagieren. Da die Schauspieler am Ende allesamt so ungeheuer befreit wirken, scheint der Zweck dieser Theateraufführung eher Werbung für weitere Workshops als die Aufführung selbst zu sein.

Susanne Raubold

Jeweils um 21 Uhr am 19., 20., 26. und 27 Mai im „Seitenschiff“, 1-61, in der Nostizstraße 25.