FEHLERFREIE PRODUKTION

■ „Die Übergangsgesellschaft“ des Maxim-Gorki-Theaters beim Theatertreffen

Die Welt des Herrenhauses, in dem drei Schwestern von einem wirklichen Leben träumen, hat Peter Hein mit seinem Bühnenbild in den DDR-Alltag hinübergerettet: umgeben von riesigen Flügeltüren und hohen Fenstern sitzen Teschechovs Schwestern zu Tisch. Die feudalistische Idylle wird überwuchert von dürrem Holz, Abfall wächst auf die Terrasse herein. Die drei Schwestern haben sich zum Arbeiten emanzipiert (Mascha Historikerin, Irina Telefonistin, Olga noch immer Lehrerin) und sind trotzdem nicht aus dem Wartestand herausgekommen. Olga (Monika Lennartz) übt mit verkniffenem Gesicht deutsche sozialistisch/kapitalistische Tugenden: Ordnen, (dem Vater) Gedenken, Korrigieren und Opportunieren. Mascha (Ursula Werner) liest Gedichte und stolpert manchmal in andere Räume, eine Vertiefung im Bühnenboden voll mit Laub. Sie klagt, nicht sehen zu können, mit ihrer dunklen (Sonnen-)Brille ist ihr nicht geholfen. Und Irina (Swetlana Schönfeld) ist zu jung, um sich mit dem Gegebenen abfinden zu können, gleichzeitig zu alt, um noch „nach Moskau“ zu wollen, es interessiert sie nicht und nichts.

Wo Moskau für deutsche DemokratInnen weder spannendes Reiseziel noch Sehnsuchtstiegel sein kann, sondern als Übervater in die Wiege guckt, müssen die Utopien neu gemischt und ausgeteilt werden. Zehn Jahre lang hat das Maxim-Gorki-Theater am eigenen Lebensgefühl vorbei Tschechovs Hoffnungsmetaphern abgestaubt, Volker Brauns Stück hat dem alt-neuen Regisseur Thomas Langhoff die Gelegenheit gegeben, mit denselben Schauspielerinnen die Geschichte weiterzuschreiben. Seitdem es schick ist, nicht nur im eigenen Saft herumzuwesteln, sondern viel, viel DDR (und im nächsten Jahr noch mehr) herüber zu brüdern, darf man sich selbst beim Theatertreffen auf so richtig kritische Töne freuen. Die zwar loyale, aber generale Abrechnung mit der besseren Hälfte läuft hier - wie Thomas Bernhards Heldenplatz - zu geschmiert, als aufregender Exhibitionismus. Auch wenn es allerorten müllert wie nie zuvor, dürfen noch immer nicht alle reisen, da bleibt mancher Bühnenarbeiter auf heimischen Brettern zurück.

Unabhängig vom Feuerwerk der schmissigen Bonmots a la „Die da drüben machen das gleiche wie wir, nur besser“ oder „Wir haben wenigstens noch ein Ziel, und wenn es das ist, den Kapitalismus einzuholen“, gelingt es Langhoff, „Gesellschaft“ als diffiziles Reiz-Reaktions-Schema dramatisch zu verwerten. Einen ganzen Akt lang werden Träume gesprochen, gespielt, ansatzweise gelebt. Auslöserin ist die Schauspielerin Mette (Ruth Reinecke), die ihre eigene Nettigkeit nicht mehr hören kann und auch die andern zum „Fliegen“ auffordert. Die Flugversuche sind ungeschickt und erbärmlich: Mascha träumt von fehlerfreien Heften, ein anderer stürzt gleich imaginär über Monaco ab. Mette, die Realistin, die den Traum von der großen Liebe in „so ein bißchen“ Zärtlichkeit (und das ist viel) zurechtstutzt, ist die einzige, die wirklich ein Tabu bricht: „Über die Grenze“ will sie, nicht topographisch, sondern ideologisch. Gerade als der alte Spanienkämpfer und knasterfahrene Linksabweichler Wilhelm Höchst (Albert Hetterle), der Onkel der Schestern, aus seiner Fernsehlethargie zu alter Begeisterung aufwacht, greift sein Neffe Walter in die Szenerie ein. Unter heulendem Fliegeralarm wird das potentiell Machbare („Wir können den Betrieb binnen 24 Stunden auf Kriegsproduktion umstellen“) zur Verhinderung möglicher Veränderung des Machbaren eingesetzt, die Hierarchien klargestellt, jenseits der Obszönität von „Kommunen“.

Die Absurdität dieser Argumentation im „Kommunismus“ wirft wenigstens einen Hoffnungsschimmer auf einen Übergang der Übergangsgesellschaft. Wie bei Tschechov brennt das Haus ab, der große, aufgebaute Apparat, und die Gesellschaft findet sich auf der Terrasse wieder. Der Fahrer Franz (Wolfgang Hosfeld), der im Vorspiel an der Dienstmütze zum repressiven Büttel aufblüht, kehrt zurück und legt einen tragikomischen Steptanz hin: „Ich war's nicht!“ Wie immer will's keiner gewesen sein, vielleicht entschuldigt sich hier auch der Autor noch schnell fürs Abfackeln. Ob Vorspiel, Nachspiel oder Zwischenspiel müssen Stalins Erben beim Erbsenzählen ausklabautern. Braun/Langhoff liefern ihnen neben plumpen Fallen („Die schwarze Farbe des Anarchismus geht nicht ab“ und wird stoisch abgeschminkt) auch subtile theatralische Fettnäpfchen.

Dorothee Hackenberg