Unzählige noch ungeklärte Probleme

Prof. Jürgen Hahn, Bundesgesundheitsamt, über die vor allem für die Chemie- und Pharmaindustrie brisante Verwaltungsvorschrift zur Abwasserbehandlung in der Gentechnik  ■ I N T E R V I E W

taz: Die gentechnischen Abfall-Produkte sind noch ziemlich neu. Viele gibt es noch gar nicht. Sie müssen erst noch „konstruiert“ werden. Folglich sind die Wirkungen erst recht unbekannt. Eine Verwaltungsvorschrift müßte darum besonders strenge Richtlinien enthalten. Mein Eindruck - nach der Analyse verschiedener Entwürfe - ist aber, daß unter dem Druck insbesondere der Chemie- und Pharmaindustrie die Inhalte abgeschwächt wurden.

Hahn: Dieser Eindruck ist falsch. Unsere Überlegungen waren: In diesem Bereich wissen wir noch zu wenig, um eine Freisetzung gentechnisch veränderter Mikroorganismen (Zellen, Zellhaufen, Bakterien, Sporen, Pilze, Viren und auch freier DNS) zulassen zu können. Deswegen müssen sie grundsätzlich vollständig inaktiviert werden. Es gibt sicher Differenzierungen, so daß Ausnahmen möglich werden - doch die kennen wir noch nicht.

Hoechst hat jetzt den Kostenaspekt massiv vorgebracht. Für die Inaktivierungsanlage wurden Kosten von einer Million Mark im Jahr genannt.

Das ist zu hoch gegriffen. Die Entsorgungsfirmen sagen uns etwas anderes. Die Zahl ist vielleicht nicht falsch, aber dann müssen die Berechnungsgrundlagen mitgeliefert werden. Außerdem müssen die Behandlungskosten im Verhältnis zum Produktpreis gesehen werden. Dann liegen die Kosten im Promille-Bereich.

Die Industrie behauptet, solche Gesetze, wie sie von Ihnen vorbereitet werden, gebe es in anderen Ländern nicht. Typisch deutsch: Das würde zu Wettbewerbsverzerrungen führen.

Die anderen Länder schauen auf uns, wir auf sie. Es ist ja überhaupt noch kein Maßstab da. Was wir jetzt machen, ist ein Mitargumentieren im unsicheren Prozeß der gemeinsamen Abstimmung. Wie beteiligen uns ja an dem EG-weiten Harmonisierungsprozeß, aber wir müssen erst einmal eine eigene Meinung haben. Wenn wir wissen, was sinnvoll ist, können wir harmonisieren. Sich aber im Vorfeld schon anzugleichen an irgendwelche Regelungen, die in ganz anderen Zusammenhängen stehen, halten wir im BGA für falsch.

In den BMFT-Richtlinien zum Schutz vor Gefahren der Gentechnik von 1986 wird gefordert, diese sollten „in angemessenen Zeitabständen dem jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik neu angepaßt werden“.

Das halte ich auch für sinnvoll. Für uns ist die vollständige Inaktivierung Stand der Technik.

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) fordert, daß bestimmte, angeblich ungefährliche Organismen nicht Gegenstand der VwV sein sollen. Von dieser Gruppe wurde eine Liste zusammengestellt. Ohne eine solche Liste, so der Verband, geht gar nichts.

Für uns schon. Wir wollen nicht den Petunien-Weg gehen, also „das Blümchen machen für die gesamte Gentechnik“. Wir sind relativ sicher, daß auch in Zukunft Ausnahmen gemacht werden können, im Moment kennen wir aber keine. Weder wir noch der VCI hat entsprechende Bewertungskriterien, um eine Ausnahme-Liste aufstellen zu können.

Sie muß aber bereits existieren. Zusammengestellt vom DECHEMA*-Arbeitsausschuß „Sicherheit in Biotechnologie“.

Ja, das waren 200 natürlich vorkommende Mikroorganismen, jedoch keine gentechnisch veränderten. Also nur ein Ausschnitt. Aber eine solche Liste müßte nicht nur geführt, sondern auch untersucht werden. Wir wenden uns auf jeden Fall gegen Bestrebungen in der EG, das im Schnelldurchgang in 60 oder 90 Tagen zu untersuchen, diese Zeit ist viel zu kurz. In der ganzen Bundesrepublik gibt es kein Behördenteam, das in diesem Zeitraum über Ausnahmen entscheiden könnte. Der Zeitdruck ist auch nicht notwendig. Wir wissen überhaupt nicht, warum sich die Welt von heute auf morgen auf die Gentechnik umstellen soll.

Der Arbeitsausschuß behauptet, Ihr Entwurf entspreche dem Stand von 1975. Zahlreiche technische Erkenntnisse würden übersehen. Schließlich stellt man fest, man habe grundsätzlich keine unerwarteten oder neuen Gefahrenpotentiale gefunden.

Was hat man denn gesucht? Das Spektrum der ökotoxikologischen Wirkungsmöglichkeiten ist unendlich und letztlich auch in seinen Ausmaßen nicht vollständig überprüfbar. Wie will ich die ökotoxikologische Wirkung eines Mikroorganismus, der in der Natur überlebt, überhaupt feststellen? Wie will ich feststellen, wo und wie er wirkt, wie er sich verändert, mit anderen zusammenwirkt. Wie er sein Genmaterial austauscht? - Alles das sind noch ungeklärte Probleme. Darum frage ich: Was haben die untersucht?

Der nächste Punkt: Hier wird so getan, als hätten Wissenschaft und Technik einen umfassenden Kenntnisstand. Doch was bisher in der Gentechnologie erforscht wurde, bezog sich vorwiegend auf gezielte gentechnische Veränderungen, nicht auf Sicherheitsrisiken. Der Anteil der Forscher, der sich mit den Risiken dieser Technologie beschäftigt, ist verschwindend gering. Formulierungen der Art wie: „Nach heutigem Kenntnisstand“ oder „Nach dem Stand der Wissenschaft und Technik“ täuschen eine Sicherheit vor, die es nicht gibt. Dieser Kenntnisstand kann zum Beispiel verschwindend klein sein. Trotzdem ist die Aussage richtig. Bisher habe ich noch keine Antwort auf meine Frage erhalten: Wie will man die ökotoxikologische Verträglichkeit bei der Freisetzung überprüfen? Wer kann mir das Bewertungsmuster nennen?

Die DECHEMA. In ihrer Stellungnahme zum VwV-Entwurf behaupten sie: Aus den Empfänger- und Spenderorganismen und der neuen Erbsubstanz, die eingebaut wird, lasse sich eine zuverlässige Risikoabschätzung durchführen.

Das ist nicht richtig. Es gibt zahlreiche Veröffentlichungen, die darauf hinweisen, daß die Annahmen, die von Jahr zu Jahr fortgeschrieben worden sind, in der Gentechnik sich immer wieder durch Gegenbeispiele aufheben ließen. So wurde behauptet, daß die gentechnisch veränderten Mikroorganismen unter normalen Überlebensbedingungen schwächer sind, als ihre unveränderten „Brüder“, sich sozusagen selbst herausselektieren, wenn sie in die Abwässer eingeleitet werden. Es gibt Experimente, die genau das Gegenteil beweisen. Außerdem wurde behauptet, daß die freie DNA nicht in bestimmte Mikroorganismen eindringen kann. Eine ganze Reihe von Experimenten beweisen das Gegenteil. Die von ihnen genannten Teile lassen lediglich eine „Risikoabschätzung mit Restrisiko“ zu.

Im Streit um die „Gesetzgebung zur Gentechnik ist die Beteiligung der Öffentlichkeit ein wichtiger Punkt der Kontroverse. Was halten Sie davon?

Ich bin der Meinung, daß im Umweltbereich die Geheimniskrämerei mittelfristig zu noch größeren Schwierigkeiten in der Einstellung der Bevölkerung zu neuen Technologien führen wird. Wir produzieren mit jedem Stoff, den wir herstellen, immer ein Stückchen Technikfrust oder Verdruß mit. Hier muß neues Vertrauen geschaffen werden. Und das kann nur durch die Einbeziehung der Öffentlichkeit geschehen. Die Behauptung, daß die Bevölkerung das nicht versteht, gilt nicht. Es gibt immer Übersetzungsmöglichkeiten.

In welcher Form sollte diese Einbeziehung geschehen?

Wenn Unternehmen den Aktionären, die auch nicht alle Ökonomen sind, in einem Aktionärsbrief die kompliziertesten Sachverhalte klarmachen, dann kann das auch in einem Produktbrief geschehen. Es sollte Pflicht der Unternehmen sein, ihre Produkte zu erklären. Angst - begründet oder nicht - vermindert Lebensqualität. Und hier können Ängste behoben werden.

Die intensiven Versuche der Chemie- und Pharmaindustrie werden nun nicht aufhören, die VwV in ihrem Sinn zu verändern. Werden Sie bei Ihrer Position - vollständige Inaktivierung - bleiben?

Der Entwurf ist wirtschaftlich und ökologisch vertretbar. Was die Industrie vorgibt, ist unglaubwürdig. So behauptet der DECHEMA-Vorsitzende, Prof. Frommer, die Industrie würde „die Natur kopieren“. Auch die Atombombe ist ja nichts anderes als eine Konzentrationsveränderung beim Uran, alles andere ist „natürlich“. Mit solchen Behauptungen zu operieren, nur das zu tun, was die Natur seit langem macht, ist sehr zweischneidig. Außerdem: Natur an sich hat mit Humanität und Menschlichkeit überhaupt nichts zu zun. Natürlichkeit im Sinne Darwins möchte ich nicht übertragen wissen auf die Bereiche menschlichen Zusammenlebens.

Interview: Horst Buchwald

* (DECHEMA: Deutsche Gesellschaft für chemisches Aparatewesen, chemische Technik und Biotechnologie e.V.)