Heldenhafte Rückkehr und elender Fall

Der „Fall Anna Lühring“ bot Bremens Senator Johann Smidt die Chance, in die Offensive zu gehen. Bremens Trauma, nicht „deutsch“ genug zu sein, konnte mit einer amtlich anerkannten bremischen Heldenjungfrau beseitigt werden. Senator Smidt bat deshalb seinen Amtskollegen Horn um diskrete Nachforschungen in Bremen. Eine junge Frau, die ihren eigenen Kopf durchsetzte, das Vaterhaus im Stich ließ und „unter die Soldaten ging“, entsprach so gar nicht den Erziehungsidealen der „Töchterschulen“ des Bürgertums.

Möglicherweise, mag Johann Smidt überlegt haben, war diese Anna Lühring in Wahrheit ein liederliches, übelbeleumdetes Weibsbild. Ein solches „Flintenweib“ konnte er natürlich im Ausland nicht als bremische Heldenjungfrau auftischen! Bremens Heldin mußte also in erster Linie tugendhaft sein. Nur der Jungfrau billigte die Männer-Moral militärische Eskapaden auf dem Schlachtfeld zu. Den Zutritt zum Schlachtfeld, diese eigentliche und wichtige Domäne männlicher Selbstverwirklichung, konnte das Patriarchat nur in der „Zeit höchster nationaler Not“ für Frauen erlauben, und das nur unter einer Bedingung: Die Frauen mußten, wie der Senat später formulieren wird, „ihr Geschlecht verleugnen“.

In angeblicher Sorge um Anna Lührings „Tugend“ stellten Bremens Honoratioren die ekligsten Spekulationen an. Während es völlig normal war, daß „der“ Soldat mordete, plünderte und vergewaltigte, mußte das weibliche Gegenstück von marienhafter Unschuld sein. Die Frauen im Krieg gehören den Männern, aber die Heldenjungfrau gehört der ganzen Nation.

Der angeforderte Bericht fiel zur Zufriedenheit aus. Horns Recherchen hatten ergeben: Anna hatte sich in einen Lützower Offizier verliebt und war ihm 14 Tage später hinterhergelaufen. Eine romantische Liaison paßte jedoch nicht ins Konzept. Die bremische Staatsraison verlangte eine andere Version: die patriotische Heldenjungfrau. Ihr mußte die Diplomatie den Heimweg ebnen. Der störrische Vater war der eigentliche Störenfried in diesem Arrangement.

Schlüpfrig merkte Berichterstatter Horn an: „Ihre Keuschheit brauchen wir nicht zu untersuchen, sondern nur die That zu würdigen. Sie hat indeß kürzlich selbst an den Vater geschrieben, daß sie wohl als Lehrerin bei dem Luisenstift (zu Berlin) angestellt werden, vorher dazu aber noch selbst dort unterrichtet werden würde. Unser Staat könnte ihr eigentlich wohl eine Aussteuer bewilligen, und wenn ihr Myrthenkranz etwas entblättert, so müßte er mit Lorbeeren durchflochten werden.“

Anna Lühring mußte also den „engen, weißen, weiblichen Anzug“ , den ihr der General-Lot teriedirektor Bornemann verpaßt hatte, wieder ablegen. In der Uniform der Lützower Fußjäger zog sie am 4. Februar 1815, knapp ein Jahr nach ihrer Flucht über die vereiste Kleine Weser, im Triumpfzug in Bremen ein:

Feierlich hielt Anna Lühring Einzug ins Bunte Tor. „Begleitet von mehreren ihrer jungen Freundinnen, begab sich auch der Vater zu der schmerzlich verlorenen und so herrlich wiedergefundenen Tochter, und feierte im Angesichte vieler Anwesenden eine höchst rührende Szene des Wiedersehens, welche alle Umstehenden bis auf Thränen bewegte.„

Doch Anna Lühring war nur ein Trumpf-As im patriotischen Ränkespiel ihrer Stadtoberen.

Vaterlandsverteidigung und Heldentum zahlten sich nicht aus. Anna Lühring machte nicht das, was man eine „gute Partie“ nannte: Keiner der jungen Offiziere hielt bei dem verarmten Johann Christoph Lühring um die Hand der Tochter an. Niemand erinnerte sich an die Aussteuer, über die Senator Horn in seinem Brief an Johann Smidt nachgedacht hatte.

Die Situation in Bremen wurde für Anna Lühring unerträglich. Sie zog nach Hamburg, wo sie bei einer Madame Adrianson in einem „Geschäft für weibliche Industrieartikel“ arbeitete. Im Oktober 1821, sechs Jahre nach ihrer Proklamation zur Heldenjungfrau, heiratete sie einen armen Schlucker, der sich als Kellner und Lohndiener durchschlug. Sie sollen ein Kind gehabt haben, das früh starb. Mit 35 wurde Anna Witwe und mußte von Almosen leben. Theodor Rösing, einem ehemaligen Lützower Jäger, galang es, in Bremen eine Pension lockerzumachen.

1860 - die patriotischen Wellen schlugen im Vorfeld der „Deutschen Einigung“ wieder mal hoch - bewilligte der Senat dann tatsächlich 150 Taler jährlich für Anna Lühring. Sie habe, wurde die alte Geschichte wieder aufgetischt, „von Vaterlandsliebe getrieben, mit Verleugnung des Geschlechts unter dem Namen Eduard Kruse als Jäger des Lützowschen Freikorps an den Feldzügen gegen Frankreich“ teilgenommen. Nur noch sechs Jahre sollte sich die fast blinde Frau Ihrer Rente freuen können. Am 25. Januar 1866 starb sie in Armut. Nicht einmal das Bett gehörte ihr, in dem sie ihr Leben beendete.