Bremerin von „etwas wilder Art“

■ Die „Heldenjungfrau“ Anna Lühring: Wie 1815 eine junge Frau aus der Brautstraße in der Neustadt zum Soldaten und schließlich zur patriotischen Trumpfkarte wurde / Eine brave Bürgerstochter im Kriegsgetümmel / Von Günter Beyer

Ein Ensemble merkwürdiger Ausstellungsstücke verwahrt das Bremer Focke-Museum in einer Vitrine: Ein Karabinergewehr mit einem Säbel, der die Inschrift trägt: „Gewidmet v. F. Wiebe, Hamburg“. Am Knauf findet sich die Gravur: „1814. Jülich. E. K., Jülich“. Daneben steht eine Tasse mit den Porträts der Monarchen von Österreich, Preußen und Rußland nebst einer türkis-goldenen Untertasse.

Zu dem martialischen Ensemble gehört schließlich noch ein Porträt. Es zeigt das Gesicht einer schmächtigen jungen Frau mit kindlichen Zügen, umkränzt von kurzen, dunklen lockigen Haaren. In der Rechten hält sie eine Feder, in der Linken ein Blatt Papier. Sie trägt ein einfaches ausgeschnittenes Kleid mit kurzen Puffärmeln nach der Mode des Empire. Die Brust ziert ein Orden.

Die junge Frau ist die Bremerin Anna Lühring. Als Gerhard Stöver sie 1815 malte, war sie 19 Jahre alt.

Am 3. August 1796 wurde Anna Lühring in der Bremer Neustadt, Brautstraße 27, geboren. Anna Lührings Vater Johann Christoph, von Beruf Zimmermeister, schmückte sich mit dem stolzen Titel „Ratsbaumeister“. Die Mutter Margarethe Marie Lühring starb, als Anna gerade 4 Jahre alt war. Anna war die zweitjüngste von fünf Geschwistern.

Anna Lührings Kindheit in der Brautstraße war vermutlich unspektakulär: Als Tochter wird sie nach dem Tod der Mutter zusammen mit ihrer Schwester die Hausarbeit erledigt haben, unterbrochen von gelegentlichen Familien-Spaziergängen „am Deich“, in einen unbequemen Sonntagsstaat gezwängt.

Anna Lühring: Wo steckt da der Keim zur Verwandlung in „Anna Lühring, deutsches Heldenmädchen“? So nannte sie ein Autor namens Meiners im „Oldenburger Volksboten“. Das war 1871.

Abwechslung in Annas geregeltem Vorstadt-Leben boten nur die ständig neuen unwillkommenen Gäste, die bei den Lührings und in Tausenden anderer Bremer Häuser einquartiert waren: Soldaten.

Bremen war seit Beginn der Französischen Revolution ein wahrer Taubenschlag. Erst kamen französische Adlige und Geistliche, die vor der Trikolore Reißaus nahmen. Dann drangen Soldaten ins neutrale Bremen ein. Die Truppen des englischen Königs Georg eröffneten den Rei

gen. Ihnen folgten die Preußen, schließlich die Franzosen.

Als Anna vierzehn war, wurde sie selbst Französin: Napoleon verleibte Bremen und umzu seinem gewaltigen Empire ein. Annas Heimat wurde Hauptstadt eines französischen Departments mit dem klingenden Namen „Departement des Bouches de Weser“, Departement der Wesermündungen. Die französischen Besatzer enthoben 1810 die vier Bürgermeister ihrer Posten und lösten die Bürgerschaft auf. Das Sagen hatte nun ein französischer Präfekt, der versuchte, Bremen nach Vorbild der „Grande Nation“ umzumodeln.

Vor allem brauchte Napoleon Kanonenfutter für seine Kriege. Alle Männer, die irgendwann einmal zur See gefahren waren, rekrutierten die Beamten für die französische Flotte. Die Überlebenschancen in der Grande Armee waren freilich gering.

„Feindsliebchen“ oder: Bremer Herbst 1813

1813, im letzten Jahr der französischen Besetzung Bremens, war Anna Lühring sechzehn Jahre alt. Annas ältere Schwester verliebte sich in einen der einquartierten französischen Offiziere. Als der den Marschbefehl bekam, zog die junge Frau mit. Das „Feindsliebchen“ - so sahen es Vater Lühring und die patriotisch gesonnene Nachbarschaft - war eine Schande für die Familie, für die Brautstraße und umzu, für die Neustadt, für Deutschland. Aber für Vater Lühring sollte es noch

ärger kommen.

Im Herbst 1813 stand es mit Napoleons Militärmacht schlecht. Im Rußlandfeldzug ein Jahr zuvor hatten die Truppen des Zaren die „Grande Armee“ auf einen kleinen Haufen von 1000 demoralisierten Überlebenden zusammenkartätscht. Auch in Deutschland bröckelte die Macht der Trikolore. In Bremen wurde die Opposition gegen die französische Herrschaft kecker, die nun perament mit der Guillotine drohte. Doch am 14. Oktober erschien ein auf russischer Besoldungsliste geführter Oberst Tettenborn mit 2400 Mann vor Bremen. Nachdem der Stadtkommandant erschossen war, kapitulierte Bremen.

Das Bremen vom Herbst 1813, nun ohne militärische Bedeckung, bot ein ideales Feld für jede Art militaristischer Betätigung. Hauptsache, es ging gegen die Franzosen. Merkwürdige Gesellen in den schwarzen Uniformen des Lützowschen Freikorps stolzierten wichtig in der Stadt umher, mieteten Zimmer an, knüpften Kontakte zu einflußreichen Männern im wiedererrichteten Senat und der Bürgerschaft.

Einer von ihnen war Baron von Petersdorf, Chef des Detachements freiwilliger Jäger im von Lützowschen Freikorps und königlich preußischer Rittmeister. Er setzte auf den „bekannten Patriotismus“ der Bremer. Petersdorf wollte Freiwillige für seine Lützower Jäger ausheben. Mit der Patriotismus-Karte waren die Bremer jedoch kaum zu locken:

Auf Petersdorfs Aufruf meldeten sich ganze 30 Freiwillige.

Auf mehr Resonanz im Lande der Dichter und Denker konnten die Poeten hoffen: Im Bremen zur Zeit der Völkerschlachten stand schwülstige Gemetzel-Lyrik hoch im Kurs. Der windigste dieser Burschen war ein Mann namens Theodor Körner. Halb Dichter, halb Soldat, fabulierte er unermüdlich zum Ruhm der eigenen Truppe, der „Lützower Jäger“. Ihre Spezialität waren Überfälle auf französische Nachschubtransporte. Die Lützower kümmerten sich nicht groß um einen ausgehandelten Waffenstillstand und machten auf eigene Faust weiter Krieg. Der Bremer Kaufmann Heinrich Böse, mit Zuckerfabriken in Bremen, Minden und Hoya zu Geld gekommen, rüstete auf eigene Kosten eine Privatarmee von 100 Bewaffneten aus.

Angesichts von soviel privatem Unternehmer-Engagement konnte der Senat nicht abseits stehen.

Bremen in neutraler Rolle

Tatsächlich hatten bremische Truppen an keiner der identifikationsstiftenden antinapoleonischen Schlachten teilgenommen. Die bremische Politik hatte es seit der Französischen Revolution verstanden, sich mit Frankreich gut zu stellen. Schließlich waren die Franzosen wichtige Handelspartner. Die übrigen deutschen Staaten hatten deshalb Bremens Neutralitätspolitik mit wachsendem Argwohn betrachtet. Sie

zweifelten an Bremens Loyalität zum Reich.

Jetzt, da Frankreich am Boden lag, riß Senator Gondela das Steuer herum. Die Zeit sei vorbei, als die Hansestädte „nur neutrale Asyle des Friedens und des ruhigen Erwerbsfleißes“ waren. Kein deutscher Staat, auch Bremen, dürfe „die eigne Freiheit von Andern sich schenken, von Andern schirmen lassen“.

Verwandlung und Flucht

Am 29. Januar 1814 verließen die Lützower Jäger die Hansestadt; am 1. Februar rückte ein Bataillon bremischer Freiwilliger aus. Vierzehn Tage später, in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar, stahl sich Anna Lühring aus ihrem Elternhaus. Sie trug die Kleider ihres Bruders Hermann. Die Tarnung war offenbar perfekt, denn ihr Vater, der sie im Hof ansprach, bemerkte den Schwindel nicht. Weil die Stadttore bewacht waren, nahm Anna den Weg über die zugefrorene Kleine Weser.

Einige Tage später meldete sich im Depot der Lützower Jäger zu Münster ein junger Student aus Oldenburg als Freiwilliger. Er nannte sich Eduard Kruse. Niemand durchschaute Anna Lührings neue Identität. Man gab ihr Uniform, Büchse, Tornister und Hirschfänger - fertig war der Lützower Jäger zu Fuß. Am 28. Februar, 14 Tage nach dem Beginn der Flucht aus Bremen, meldete sich Fußjäger Kruse bei Hauptmann von Helmenstreit im rheinischen Aldenhoven.

Die erste militärische Aufgabe von Eduard alias Anna war die Belagerung der Festung Jülich. Dort hatten sich französische Truppen verschanzt. Nach sechs Wochen wurden die Lützower von mecklenburgischen Truppen abgelöst. Das Freikorps zog weiter nach Aachen. Unterwegs befahl Hauptmann von Helmenstreit den Fußjäger Kruse zu sich. Helmenstreit hatte einen Brief von Vater Lühring aus Bremen erhalten. Johann Christoph Lühring hatte nach der Flucht seiner Tochter überall Nachforschungen angestellt.

Ein Lützower Offizier namens Ewald, der bei den Lührings Quartier bezogen hatte, deckte Fußjäger Kruses wahre Identität schließlich auf - doch nur hinter verschlossenen Türen: Annas (Eduards) Identität sollte Geheimnis bleiben. Der Hauptmann informierte allerdings Kruses Vorgesetzten, einen Lieutenant von Reil. Der weibliche Kuckuck

im männlichen Nest der Lützower wurde sogleich zum diffizilen Problem der Inneren Führung. Ein Feldwebel mußte nun dafür sorgen, daß Fußjäger Kruse entweder allein im Quartier zu liegen kam oder nur, wie es hieß, zusammen mit den „ehrenhaftesten Männern der Truppe“. (Einer dieser Tugendbolzen, Friedrich Wiebe aus Hamburg, stiftete Anna Lühring den Säbel, der heute im Focke-Museum ausgestellt ist.)

Nach dem Marsch durch Belgien bis in die Nähe von Reims ereilte die Lützower im April im Feindesland eine schlechte Nachricht: Der Krieg war aus.

Rückzug nach Berlin

Was blieb, war ein anstrengender Fußmarsch zurück bis Berlin, wo „Lützows wilde verwegene Jagd“ demobilisiert wurde. Für Anna Lühring hatte der Feldzug 122 Tage gedauert. Ihr Vorgesetzter, Lieutenant von Reil, übernahm nun die Beschützer-Rolle in Berlin. Er führte die Siebzehnjährige in die feine Gesellschaft ein. Anna Lührings strenger Vater wollte von der entwichenen Tochter nichts mehr wissen. In der preußischen Hauptstadt war Anna Lühring bald eine gefragte Attraktion auf den Soire'en der feinen Gesellschaft. Fürsten und Bourgeois waren neugierig auf die „heldenmüthige Bremerin“. Prinzession Marianne, die First Lady von Preußen, lud sie ein und schenkte ihr jene Sammeltasse, die heute im Focke-Museum zu bewundern ist.

Bis Bremen waren diese Wendungen im Schicksal der Anna Lühring allerdings nicht vorgedrungen. Im August 1814 wandte sich ein neuer Bekannter Annas, der Berliner Hofrat Heun an den Bremer Senator und späteren Bürgermeister Johann Smidt. Er schrieb: Anna Lühring „erwarb sich durch ihr sittliches Betragen überhaupt die Achtung aller der Frauen, mit denen sie hier (in Berlin) bekannt wurde“. Der Lotteriedirektor Bornemann habe sie freundlich aufgenommen und „ließ ihr durch seine Familie einen engen, weißen, weiblichen Anzug“ besorgen. „Doch dies alles kann das unglückliche Mädchen nicht trösten über das Mißverständnis, in dem sie mit ihrem Vater steht, der ihr verboten hat, vor zwey Jahren in sein Haus zurückzukehren“. Da hatten die Bremer nun ihre patriotische Heldenjungfrau, aber eben nur im preußischen Exil und ohne rechten Nutzen für die Stadt.