Von Robotniks und Gehirnmenschen

■ Philosophien der neuen Technologie

Die in dem vorliegenden Buch enthaltenen Essays sind am 14.September 1988 auf dem Symposion „Philosophien der neuen Technologie“ vorgetragen worden. Veranstalter war der Merve Verlag.

Hannes Böhringer datiert die Anfänge der Hochtechnologie 2.500 Jahre zurück. Odysseus schlug, wie uns bereits Adorno lehrte, mittels List und Maschine nicht nur Troja (Pferdchen, ick hör dir trapsen), sondern auch alle anderen übermächtigen Gegner. Odysseus war Kybernetiker (Steuermann).

Aber jede Maschine ist fehlerhaft. Aus dem Scheitern der Maschine, dem Zerfall der funktionalen Einheit in seine Einzelteile, entstand die amechanische, freie Kunst der Poesie in der Philosophie. Sie spiegelt die Amechanie der Maschine: Die sokratische Philosophie ist aporetisch. Eine Philosophie, die ihren Anfang immer im fixierten und aufgehaltenen Scheitern findet und sich im Wissen des Nichtwissens erfüllt, steigert wie die endlosen Klagen Hiobs und der Tragödie die Maschine zur Untergangsmaschine. Sie ist das Bewußtsein der letzten, unüberwindlichen Ohnmacht des Sterblichen, des Menschen, der durch die Maschine seine Fallhöhe beträchtlich steigern konnte. Zum Schluß bleibt ihm wie Odysseus nur die letzte List: die strenge Form der Klage.

Das „Foerstersche Theorem“ besagt: Wir können nur die unentscheidbaren Fragen entscheiden, die anderen sind immer schon entschieden. Nur im Entscheiden des Unentscheidbaren entledigen wir uns des Zwangs und gewinnen Freiheit. Alles Wahrnehmen ist Entscheiden, auch des schon Entschiedenen. Foerster stellt der Abbildtheorie, die einen unbeteiligten, quasi außerhalb der Welt stehenden Beobachter postuliert, den mitfühlenden Beteiligten gegenüber, der das Universum wahrnehmen und verstehen kann, weil er selbst Teil des Universums ist.

Vilem Flusser reflektiert den Begriff und die Funktion des Gedächtnisses. Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das zwei Gedächtnisse besitzt: ein genetisches und ein erworbenes. Das kulturelle Gedächtnis ist eng mit dem Begriff der Menschenwürde verwoben. Was ist ein Gedächtnis? Es ist informiertes Material, Hardware, das Informationen über eine kürzere oder längere Dauer speichert, zum Beispiel ein behauener Stein, beschriebenes Papier, in Schwingung versetzte Luft oder ein Magnetband. Das kulturelle Gedächtnis bestand seit der Erfindung der Schrift, dem Ende der Vorgeschichte, vor allem in der Bibliothek. Die platonische Philosophie idealisierte und sakralisierte sie als über den Subjekten ( Unterworfene) schwebende Transzendenz der Ideen. Auf dieser Transzendenz gründen die Werte der westlichen Zivilisation, die sich jetzt, seit der Entdeckung des Elektrons 1897 und der elektronischen Gedächtnisse in einer fundamentalen Umwälzung befindet. Die relationelle Sichtweise hat sich im 20.Jahrhundert nicht nur in der Physik nach Einstein und Heisenberg durchgesetzt. Ähnliches ist in der Psychologie, Politologie, Soziologie und Philosophie erkennbar. So sind Freuds Psychoanalyse und Husserls Phänomenologie Artikulationen der Feldsicht. Die Lebenswelt erweist sich als Feld konkreter Relationen. Die transzendentale Subjektivität zerfällt in ein Geflecht von Relationen und wird in eine intersubjektive Struktur von Fiktionen transformiert: Das Ich ist das, wozu andere Du sagen, ein prozessualer Knotenpunkt im dialogisch angelegten Netzwerk der sich allseitig beeinflussenden monologischen Diskurse. Die Praxis elektronischer Gedächtnisse, so Flusser, entheiligt jedoch nicht das Gedächtnis in seiner negativen entropischen Einstellung. Vielmehr wird sein Geheimnis, sich der natürlichen Tendenz zum Zerfall entgegenzustellen, nochmals gesteigert in dem Wissen, letzten Endes wie alles Sein zum Scheitern verurteilt zu sein.

Das griechische Wort Elektron bezeichnet ursprünglich Bernstein und eine Mischung aus Gold und Silber. Der Output elektronischer Medien, sagt Kittler, ist von allen Produkten hergebrachter Kunst zu unterscheiden. Das Alphabet transformierte die orale Kultur des Mythos in die Bibliothekskultur (Flusser). Buchstaben sind Zeichen für Laute und Laute Zeichen der Seele, schrieb bereits Aristoteles.

Goethes Prometheus agierte, als er einen Menschen nach seinem Bilde schaffen wollte, noch im Grenzbereich des Imaginären. Prometheus, der Lehrer aller Kunst (und Technik), untersteht in der behaupteten Selbständigkeit allen Göttern wie alle Schrift dem Imaginären (Lacan). Die Schrift hat Herrschaft nur über das Signifikante. Anders die elektronischen Maschinen: Der elektronische Rechner bejaht, was nicht ist (Simulation), und ein Niegesehenes öffnet dem Mathematiker die Augen. Die Mathematik wird durch den Computer zur experimentellen Wissenschaft. Die Digitalisierung, das unterscheidet sie von jeder imaginären Fiktion der Schrift, öffnet mittels Simulation und Dissimulation das Reale in seiner Kontingenz unter Umgehung des Imaginären den symbolischen Prozeduren. Der Zufall selbst wird im elektronischen Planspiel kalkulierbar. Die Übertretung des mosaischen Bilderverbots durch das Reale selbst kostet nur Rechenzeit.

Peter Weibel untersucht die Wechselwirkung zwischen Technik und Territorium (Engels). Die Kanone stürzte mit ihrer Reichweite das Feudalsystem. Die Artillerie ist die Waffe des Nationalstaats. Immaterielle Kriegstechnologien (Radar) und Teletechnologien wie SDI und Satellit werden den Nationalstaat abschaffen.

Teletechnologien erweitern die Reichweite unserer Sinnesorgane. Mit dem (Elektronen-) Mikroskop wurde die Grenze ins Kleine verschoben. Teleskope ermöglichen der Astronomie die Vermessung des unendlichen Territoriums. Technik ist wie das Organ territoriale Ausformung der ausdehnungslosen res cogitans. Aber so wie der Geist sich in der Materie verkörpert (Technik), wird die res extensa, etwa das Universum der Astronomen, in der res cogitans (Geist) repräsentiert: ein circulus creativus!

Jede Technologie ist Teletechnologie. Sie erweitert die Extension menschlicher Organe. Die Maschine ersetzt schließlich anders als alles Werkzeug die menschliche Arbeit und hebt sie über alles natürliche Ausmaß hinaus. Der Mensch erlangt über die technischen Hilfsorgane Gottähnlichkeit, wird ein Prothesengott (Bergson).

Die „elektronischen Gehirne“ führen zu einer Amplifikation der res cogitans über alles Organische hinaus. Diese „elektronische Transformation“ verändert auch das Territorium. Die „Grenzen der menschlichen Provinz“ werden neu abgesteckt. Das Verlöschen des Realen in der mathematischen Simulation seit Galilei eröffnet dem Menschen mit den Theorien der vierdimensionalen Raumzeit und einer mehrdimensionalen Geometrie ein neues Territorium. Der Computer ist Symptom und Zeichen, daß das natürliche Territorium nicht identisch ist mit dem Code des Universums und des Menschen.

Die Transzendenz liegt wie Bruchstücke des Spiegels, der das Imaginäre abbildet, vor dem virtuellen Menschen, sagt Baudrillard. Narziß sehnt sich heute nicht mehr nach dem vollkommenen Idealbild, sondern nach der Formel einer endlos identischen genetischen Reproduktion. Der Mensch befindet sich im Prozeß einer unendlichen Angleichung an sich selbst. Er benötigt nicht länger den Anderen, sondern betrachtet auf dem Monitor das Gespenst des Identischen. Er führt eine endloses Zwiegespräch mit der Maschine und fragt sich: Bin ich Mensch, oder bin ich Maschine?

Die künstliche Intelligenz wird hervorgebracht von leidenschaftslosen Junggesellenmaschinen, die einfältig und unschuldig immer die gleichen Operationen vollziehen. Repräsentierte das Imaginäre des Spiegels die narzißtische Entzweiung, die Ich-Szene in der Andersheit, so bewirkt das Virtuelle des Bildschirms eine neue platonische Höhle, in der der Mensch nurmehr die Schatten der fleischlichen Lust vorüberziehen sieht. Die Maschine führt zur Exterritorialisierung des Menschen. Nicht einmal das Gehirn ist ihm geblieben, es objektivierte sich in der „künstlichen Intelligenz“, jenes Gehirn, das immer schon artifizieller Auswuchs des Menschen war (fürwahr, bei manchen mehr, anderen weniger..., d.S.). Das groß projizierte exterritoriale zerebrale Schauspiel zeigt uns die Promiskuität der Partialobjekte, die universelle Pornographie der kleinsten Teilchen und der größten „Himmelskörper“, und uns weht dabei die tiefe Melancholie des Rechners entgegen, und der Andere ist nur noch das Gespenst unserer Identität.

Allen Gehirnmenschen und solchen, die es werden wollen, sei dieses Buch zum surrationalistischen Verständnis ihres vielleicht schon geklonten Selbst empfohlen.

Ulrich Ebermann

Jean Baudrillard, Hannes Böhringer, Vilem Flusser, Heinz von Foerster, Friedrich Kittler, Peter Weibel: Philosophien der neuen Technologie, Ars Elektronika. Hg. Merve Verlag Berlin. 135S., 12DM.