Abgrund des Fortschritts

■ Bundestagsdebatte über geplanten Strafparagraph zur Vergewaltigung in der Ehe

Begrüßenswerter Fortschritt und verdammungswürdiger Skandal liegen manchmal dicht beieinander. Welchem Gesichtspunkt beim geplanten Strafparagraphen zur Vergewaltigung in der Ehe der Vorzug gegeben wird, ist eine Frage der Maßstäbe besser gesagt: des Ausmaßes weiblicher Bescheidenheit.

Für manche Männer in der CDU, CSU und auch in der FDP ist es eine gewaltige Kröte, die sie jetzt schlucken sollen: anzuerkennen, daß die von ihnen über alles gelobte christliche Ehe in Wahrheit ein Hort der Gewalt, der Frauenverachtung, der Kriminalität ist. Wer gestern im Bundestag zuerst die geifernden Töne hörte, mit denen beim Thema Abtreibung das Selbstbestimmungsrecht der Frau zum hundertsten Mal verbal mit Füßen getreten wurde, kann ermessen, wie quer die Reform-Kröte in manchem Chauvi-Hals stecken muß. Wenn dennoch dem Zeitgeist der Gleichberechtigung und dem ständigen Quengeln der Frauen in der eigenen Partei Tribut gezollt wird, ist das zweifellos ein Fortschritt.

Doch wie dieses Zugeständnis verpackt wird, zeigt gleichzeitig das Ausmaß des Skandals. Nach 17jährigem Gerangel im Bundestag soll es eine tatsächliche juristische Gleichbehandlung jedweder Vergewaltigungen immer noch nicht geben. Am Ende des 20.Jahrhunderts soll es weiterhin zwei Sorten von Frauen, zwei Klassen von sexueller Gewalt im bundesdeutschen Strafrecht geben. Die Verwehrung der kriminologischen Indikation mag für die Praxis keine große Rolle spielen, aber gerade deshalb bekommt sie als juristisches Symbol dieser Doppelmoral um so mehr Gewicht. Doch da ist noch mehr: Anerkannt wird weiterhin nur die körperliche Gewalt. Und eine Strafverfolgung des Täters mit Ehering soll es nur geben, wenn sein Opfer standhaft genug ist, sich gegen sämtliche abzusehende Pressionen zur Wehr zu setzen.

Die Ehefrau soll also nur insoweit geschützt werden, wie es für den Schutz der Institution Ehe geboten ist: Dort ist Gewalt sittenwidrig, wenn die Schreie so laut werden, daß die Gesellschaft sie nicht überhören kann. Der Blick in diesen Abgrund konservativer Reformfreudigkeit macht taumeln: Der gesetzgeberische Fortschritt enthüllt erst, wie katastrophal schwach weibliche Macht in dieser Gesellschaft ist.

Die Frauen im Bundestag hätten es in der Hand gehabt, etwas anderes durchzusetzen. Wenn die Feierabend-Feministinnen der FDP jetzt noch nicht einmal eine Verbesserung des Unionsvorschlags durchsetzen, ist ihnen wirklich nicht zu helfen.

Charlotte Wiedemann