Der Wert des Menschen

ESSAY Von Götz Aly und Christian Pröss

Mit einem Tabuthema innerhalb der bundesdeutschen Ärzteschaft wird sich in der kommenden Woche ein Internationales Symposium in Berlin beschäftigen: veranstaltet von der Berliner Ärztekammer und unter Schirmherrschaft der Bundesärztekammer wird über das Thema „Gesundheitsreform und Vernichtung, Medizin in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus“ diskutiert. Anfang Mai hatte schon der offizielle Deutsche Ärztetag, in der Ausstellung „Der Wert des Menschen“ die Verbrechen der Ärzteschaft im Nationalsozialismus thematisiert. Aus dem Vorwort des Ausstellungskatalogs entnehmen wir folgendes leicht gekürztes Essay. Der über 300 Seiten starke Katalog ist im Verlag Edition Hentrich, Berlin erschienen.

„Das Verhängnis muß aus vielen Quellen seinen Lauf genommen haben.“ So faßten Alexander Mitscherlich und Fred Mielke 1947 ihre Eindrücke aus dem Nürnberger Ärzteprozeß zusammen. „Der Arzt“, so fuhren sie fort, „konnte aber erst in der Kreuzung zweier Entwicklungen zum konzessionierten Mörder und zum öffentlich bestellten Folterknecht werden: dort, wo sich die Aggressivität seiner Wahrheitssuche mit der Ideologie der Diktatur traf. Es ist fast dasselbe, ob man den Menschen als 'Fall‘ sieht oder als Nummer, die man ihm auf den Arm tätowiert - doppelte Antlitzlosigkeit einer unbarmherzigen Epoche.“ Mitscherlich und Mielke hoben hervor, daß in diesem Prozeß unablässig Namen von Männern hohen wissenschaftlichen Ranges fielen. Bis heute verstellt das Bild vom Mörder im weißen Kittel, vom grausamen KZ-Arzt, den Blick auf die dramatischere Tatsache, daß nur wenige der beteiligten Sadisten, die meisten dagegen geachtete Hochschullehrer, Forscher und ausgesprochen engagierte Ärzte waren.

Die Suche nach immer neuen Erkenntnissen hat Wissenschaftler und Ärzte seit Jahrhunderten angetrieben. Ohne sie gäbe es keinen Fortschritt, keine moderne Diagnostik und Therapie. Doch in der naturwissenschaftlichen Forschung des 19.Jahrhunderts wurde diese Suche immer mehr eine Suche nach objektiven, objektivierbaren Wahrheiten. Zerstörerisch wurde und wird die Wahrheitssuche in der Medizin dann, wenn sie ihr eigentliches Ziel, die Heilung des einzelnen Kranken, die Linderung seiner Leiden, das nil nocere aus dem Auge verliert, wenn sie zum Selbstzweck wird und sich „übergeordneten“ Zielen verschreibt. Welcher Arzt erlebt nicht die Verlockung zur invasiven Diagnostik, die Faszination, in den verborgensten Winkel des Körpers hineinzuschauen? Neugier, Konkurrenz, Karrierismus, ein pervertiertes Abrechnungssystem und ein Verlust der klassischen ärztlichen Kunst, zuzuhören und seine fünf Sinne zu gebrauchen, führen zu einem inflationären Gebrauch der Technik. Apparatur und Wissenschaft schieben sich zwischen Arzt und Patient. Die verführen den Arzt dazu, der Begegnung mit der Unvollkommenheit und Unberechenbarkeit des Menschen auszuweichen und sich statt dessen in die scheinbar sichere Welt von Laborwerten und Computertomogrammen zu flüchten. Die Verkümmerung der Medizin zur rein diagnostischen Wissenschaft wurde bereits in der Debatte um die Krise der Medizin in der Weimarer Republik beschworen. Heute haben die Eingriffe in den Organismus mit der rasanten Entwicklung der Molekularbiologie eine ganz andere Qualität erreicht. In der Gentechnologie und Reproduktionsmedizin schwingt der Arzt sich zum Herrn über die Schöpfung auf. Er nimmt die Evolution selbst in die Hand, und dies mit viel feineren Mitteln, als es die grobschlächtige Eugenik der dreißiger und vierziger Jahre vermochte.

Nicht weniger aggressiv ist der Glaube an das „verkartete“ Wissen. Im Dritten Reich gaben Ärzte alle verfügbaren Daten über ihnen anvertraute Kranke an die erbbiologischen Karteien von Gesundheitsämtern, an Erbgesundheitsgerichte und Forschungsinstitute weiter. Sie brachen die Schweigepflicht und wurden zu Denunzianten ihrer Patienten. Heute sind wir nicht allzu weit entfernt von dem gläsernen Patienten, dessen Lebensführung, Krankheit, Behinderung, Kriminalität und abweichendes Verhalten der Staat unter seine Kontrolle zu bringen versucht.

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Eine andere Quelle des Unheils liegt in der Spannung zwischen den Allmachtsphantasien der Ärzte und ihrer tatsächlichen Ohnmacht. An der Sisyphusarbeit gegen das tägliche Elend, gegen Not und Einsichtslosigkeit, an der Rätselhaftigkeit des Menschen kann die moderne Medizin wenig ändern. Sie kann den im Rausch gestürzten Alkoholiker nicht heilen, der zum xten Mal mit einer Fraktur in die Klinik eingeliefert wird und den man jedes Mal mühsam wiederherrichtet. Wozu der ganze Aufwand?, lautet dann die Frage. Steigt der frisch approbierte Arzt aus dem Elfenbeinturm der universitären Medizin in die Niederungen der alltäglichen Praxis, werden ihm die Grenzen seiner beruflichen Kunst und die eigene Hilflosigkeit bewußt. Weder kann er die Menschen verändern, noch die Gesellschaft. Schnell schlägt der Idealismus des Helfers um in eine aggressive Stimmung gegen den Kranken und mündet in die Suche nach radikalen, „endgültigen“ Rezepten. Der rückfällige, unheilbare, chronisch Kranke mobilisiert eigene Krankheits- und Todesängste. Paart sich die Stimmung mit einer existentiellen Verunsicherung durch Arbeitslosigkeit, Sparpolitik und Angst vor der Zukunft, setzt die Erosion ethischer Normen nur allzu schnell ein. Auffallend parallel zur Schelte gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen mehren sich heute Tötungshandlungen gegen alte Menschen und Kranke auf Intensivstationen. Nicht umsonst mahnte Leo Alexander, der medizinische Sachverständige der amerikanischen Militärjustiz im Nürnberger Ärzteprozeß, die chronisch Kranken als schwächste Glieder des Medizinbetriebes gelte es in Zukunft besonders zu schützen.

Wer definiert den Wert des Menschen? Die Lehre von der Ungleichheit der Menschenrassen, von der Einteilung in Höher - und Minderwertige, zielte auf die Revision des Gleichheitsgrundsatzes und der Menschenrechtsdeklaration der Französischen Revolution. Sie lieferte das ideologische Rüstzeug für eine biologische Lösung der sozialen Frage. Auch wenn Armut, Geschlechtskrankheiten, Tuberkulose und Alkoholismus zu Zeiten der Industrialisierung hauptsächlich in den Elendsvierteln der großen Städte Verbreitung fanden, wurden die gesellschaftlichen Ursachen einfach wegdefiniert und zu individueller Schuld umformuliert. Armut wurde zum Ausdruck von „Entartung“ und „erblicher Minderwertigkeit“. Führende Psychiater und Anthropologen verwissenschaftlichten diese ideologischen Kampfparolen und erhoben sie zu scheinbar objektiven medizinischen Diagnosen. „Minderwertig“ und „höherwertig“ wurden in fast allen politischen Lagern gebräuchliche „wertfreie“ Begriffe, so selbstverständlich, wie man heute von „behindert“, „sozial schwach“ oder „intakt“, „stabil“, „leistungsstark“ spricht. Das Ziel von Gesundheitspolitik unter dem Primat der Ökonomie, das die alte und neue Begriffsordnung miteinander verbindet, ist die Wiederherstellung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit, die Verwertbarkeit des Menschen im Arbeitsprozeß. Im Nationalsozialismus sollten Gesundheitsdrill und lückenlose Kontrolle den Abfall der Leistungsfähigkeit hinausschieben bis „kurz vor Entritt des Todes“, und wo das nicht gelang, den Tod künstlich nach vorne verlegen.

Die Aufbruchstimmung und Kreativität der Weimarer Zeit auf dem Gebiet der Sozialmedizin, der Gesundheitsvorsorge, der Psychoanalyse und Ganzheitsmedizin mutet rückschauend an wie ein kurzer, allzu trügerischer Traum. Da die kurative Medizin wenig zu bieten hatte - die Antibiotika waren noch nicht entdeckt -, stand die Krankheitsprophylaxe im Vordergrund. Sie erforderte eine möglichst lückenlose Erfassung der Kranken, eine Begleitung der Menschen „von der Geburt bis zum Grabe“, wie es der Sozialist Ignaz Zadek formulierte. Der Arzt wurde so vom Anwalt des einzelnen Patienten zum Sachwalter des Staates im Interesse der Volksgesundheit. An die Stelle der überlieferten Individualethik und christlich karitativen Liebestätigkeit setzte die Reform eine Kollektivethik vom Wohl des Volksganzen; die private Wohltätigkeit ging zunehmend in die Hände des Staates über. Von der Reform, die unter humanitärer Zielsetzung angetreten war, blieb im Zuge der Sparpolitik nach der Weltwirtschaftskrise nur das kontrollierende und reglementierende Korsett. In diesen in Bewegung geratenen Strukturen gab es kein Halten mehr vor der Entwertung des einzelnen. Statt um Barmherzigkeit, ging es um Rentabilität.

Warum kommt die offizielle Selbstbesinnung der Ärzteschaft erst jetzt, 44 Jahre danach? Der „Zusammenbruch“ eines Staates, der Ärzten soviel Macht und Handlungsfreiheit wie nie zuvor gewährt hatte, bewirkte eine kollektive Amnesie. Man konnte doch nicht zugeben, wieviel man profitiert hatte. Gewissensbissen zum Trotz hatte man die Gelegenheit zum Experiment am lebenden Objekt ergriffen. Auf den Posten verjagter jüdischer Kollegen hatte man schnell Karriere gemacht, im Handumdrehen eine Tausend-Scheine-Praxis ergattert. Das ging durch den Krieg nicht verloren. Über den „Zusammenbruch“ gerettete Versuchsprotokolle und Erbkarteien lieferten noch Jahre danach reichlich Stoff für wissenschaftliche Veröffentlichungen; die besten anatomischen Präparate, die in der medizinischen Ausbildung bis heute verwendet werden, stammen von Opfern des Massenmordes. Die Verstrickung in das Geschehene war mit den hippokratischen Normen, mit der Schweigepflicht, mit der Maxime, Leben zu erhalten, und mit dem nil nocere nicht in Einklang zu bringen. Ein offener Blick zurück hätte bedeutet, sich eingestehen zu müssen, daß die ärztliche Ethik von innen heraus zerstört war.

Was bleibt, ist eine schmerzhafte Besinnung auf das, was in einer unheimlichen Normalität und Alltäglichkeit geschah, und eine ständige Vergegenwärtigung der vielen Quellen, aus denen das Verhängnis erneut seinen Lauf nehmen könnte.