„Du hast ja 'n Rad ab“

■ Alternative Action um Mauerspringer nach Ost-Berlin

Vor eine prekäre Entscheidung gestellt waren am Sonnabend abend die Bewohner des „Rollheimer„-Wohnwagendorfs am Potsdamer Platz. „Da kam gegen 20.45 Uhr ein Typ ziemlich verwirrt auf unserem Platz an und meinte 'Ich will 'ne Leiter und damit über die Mauer nach drüben'“, erzählt der Kolonistensprecher Wolfgang Niedrich. „Wir haben den belabert und gesagt 'Du hast ja 'n Rad ab - entweder du machst vorher ein bißchen Wirbel und schaffst Öffentlichkeit für deinen Fall oder du läßt es sein und wirst eingesargt. Aber jetzt so einfach rüberspringen, das ist doch eifach Blödsinn.'“

Nach der Schilderung des mit seiner Familie in einem umgebauten Zirkuswagen hausenden Handelslehrers ließ sich der seltsame Besucher indes partout nicht von seinem Vorhaben abbringen. Niedrich: „Der Typ bekam von uns schließlich die Leiter und stieg über einen von uns an die Mauer herangefahrenen Lastwagen mit einer Reisetasche und einem Koffer in den Händen nach drüben. Vorher hatten wir die Grenzer in dem uns gegenüberliegenden Wachturm, die wir ja über die Zeit alle persönlich kennen, durch Zurufe informiert. Die machten erst noch Faxen, kamen dann aber herunter und nahmen den Mann ohne Waffen in Empfang.“

Laut den Augenzeugen wollte der nach eigenen Angaben 26jährige Dirk Sandrock aus Baden-Württemberg mit seiner Verzweiflungstat die von den DDR-Behörden abgelehnte Ausreise seiner Verlobten in Magdeburg und seines sechsjährigen Sohnes erzwingen. Dies sei ihm bei der Entlassung in den Westen nach Absitzen einer 15monatigen Haftstrafe wegen des Besuchs der Bonner Ständigen Vertretung in Ost-Berlin vor zwei Jahren zugesagt worden. Dem Vernehmen nach soll DDR-Anwalt Vogel freilich aufgrund der Aussichtslosigkeit entsprechende Bemühungen eingestellt haben. Wie es heißt, wurde der Verlobten von Sandrock auch bereits zum zweiten Mal ein für ein Treffen im sozialistischen Ausland beantragtes Visum abgeschlagen. Unterdes ergab gestern ein taz-Anruf in Ost-Berlin, daß die DDR-Nachrichtenagentur ADN bisher keine Silbe über den Grenzzwischenfall verlautbarte. So erscheinen Mutmaßungen journalistischer Beobachter, die DDR werde das Anliegen des Mauerspringers nunmehr geräuschlos regeln wollen, nicht ganz grundlos.

thok