Lernprozesse

Zum Besuch Gorbatschows in China  ■  KOMMENTARE

Seit dem letzten Besuch eines sowjetischen Generalsekretärs in Chinas Hauptstadt im Jahr 1959 hat sich die Welt beträchtlich verändert. Damals waren beide Staaten noch Verbündete, wobei die Dominanz eindeutig beim großen Bruder im Norden lag. Im Westen wurde mit dem Schüren von Angst vor sino-sowjetischem „Expansionismus“, vor den „heranwogenden Bevölkerungsmassen Asiens“ und „kommunistischem Weltmachtstreben“ kräftig Politik gemacht. Im Osten wurde zwar von „friedlicher Koexistenz“ gesprochen, doch der schließliche Übergang vom „letzten Stadium des Kapitalismus“ zum „Sozialismus“ schien nur eine Frage der Zeit. Der „Systemgegensatz“ dominierte die Wahrnehmung auf beiden Seiten.

Jetzt scheint zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg ein Punkt erreicht, an dem die großen drei der Weltpolitik - die USA, China und die Sowjetunion - zumindest miteinander reden können. Sie scheinen um solche Verbesserungen ihrer Beziehungen bemüht, die nicht sofort auf Kosten des jeweiligen Dritten gehen. Ist das ein Ergebnis zunehmender Entideologisierung internationaler Politik, einer Wende zum Pragmatismus? Tatsächlich hat diese Entideologisierung vor allem auf östlicher Seite stattgefunden. Für den inneren Gebrauch hat sich die marxistisch-leninistische Ideologie zunehmend als Entwicklungshindernis herausgestellt. Ihren außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Interessen entspricht eine Sicht auf die Welt als Kampf zweier Systeme, Sozialismus und Kapitalismus, nicht mehr. Schon deshalb wird durch den jetzigen Besuch keine Neuauflage einer sino -sowjetischen Allianz eingeleitet. Es geht darum, Ressourcen für die innere Entwicklung freizumachen, den Reformprozeß in beiden Ländern außenwirtschaftlich abzusichern und die innenpolitische Position der Reformprotagonisten durch ein spektakuläres Gipfeltreffen zu stärken, aber nicht um mehr.

Um mehr geht es dagegen bei einer Art neuen „Internationalismus von unten“, der wechselseitigen Faszination durch die Reformprozesse im anderen Land. Sowjetische Reformer blicken voll Bewunderung auf die wirtschaftliche Dynamik in China und fragen sich, ob nicht doch auch ihre Wirtschaft erst in Ordnung gebracht werden sollte, bevor eine politische Reform eingeleitet wird. Umgekehrt verweisen die Aktivisten der chinesischen Demokratisierungsbewegung auf die Wahlen in der Sowjetunion und die politische Reform in Ungarn. Wenn sich daraus ein wechselseitiger Lernprozeß in Sachen gesellschaftlicher Emanzipation entwickeln würde, dann könnte das eine stabilere Basis künftiger Zusammenarbeit sein als der doktrinäre „proletarische Internationalismus“ vergangener Jahrzehnte.

Es müßten dann auch nicht die USA, die noch einen beträchtlichen Überschuß an Ideologie produzieren, lachender Dritter sein, dessen Konditionen schließlich als allgemeine Geschäftsgrundlage akzeptiert worden sind. Wahrscheinlicher wäre, daß durch diese Entwicklung die jeweiligen Interessen zu einer multipolaren Welt klarer zutage treten, weil sie nicht durch den Zwang zum Schulterschluß mit der jeweiligen Hegemonialmacht verschleiert werden. Das erleichtert die Austragung wirtschaftlicher und sozialer Konflikte, aber es wird sie gewiß nicht aus der Welt schaffen.

Walter Süß