Senkblei unter der Gürtellinie

Erzbischof Joachim Meissners Debüt bei der Pfingst-Performance im hohen Dom zu Köln / Mit Weihrauch und venezianischer Chormusik / Geschichte vom Jesus, der durch die geschlossene Türe tritt  ■  Aus Köln Bernd Leukert

Mit dem hellen Klang der Schiffsglocke setzt sich der Geleitzug in Bewegung. An seiner Spitze schreitet ein kleines Männchen in einem knöchellangen, schwarzgefaßten Purpurrock. In der Rechten führt er den mächtigen Heroldstab, den ein Silberbarren in Wappenform mit eingetriebenem Kreuz krönt; sein Greisenkopf balanciert keck eine schwarze, zylindrische Samthaube. Fellini hätte ihn nicht schöner schaffen können.

Den gleichkostümierten Brüdern folgen solche in schwarzen, weiß gedeckten Kleidern, denen sich auch ein Kuttenträger beigesellt und schließlich in changierendem lila Habit die Würdenträger. Unter ihnen der debütierende Star dieser Inszenierung, Erzbischof Joachim Meissner, jüngst erst von der römischen Generalintendanz gegen den erklärten Willen der Kölner zu diesem Engagement verpflichtet.

Die Männerstimmen des unterbesetzten Domchores intonieren das „Kyrie“, in den hohen Lagen entgleisen selbst die Knaben. Anders als der Jedermann in Salzburg oder Winnetou in Bad Segeberg folgt das pfingstliche Hochamt in Köln keiner schlüssigen Dramaturgie, sondern ist aus heterogenen Einzelszenen collagiert, so daß die Sinngebung beim Publikum verbleibt.

Dem folgt auch das musikalische Konzept: Die Missa in C des 1870 verschiedenen Organisten und Kapellmeisters am Dom in Köln, Carl Leibl, wird - anything goes - verschränkt mit dem „Geist des Herrn“ von Melchior Vulpius, der 1615 in Weimar begraben ward, sowie der „venezianischen“ Mehrchörigkeit des musikgeschichtlich nachfolgenden Heinrich Schütz (Jauchzet dem Herrn).

Der Chor singt das vokale Filigran seitlich ein, für den Parkettbesucher also aus dem Off - vielfach brechen sich die Klänge an der gegliederten Innenwand: die musikalische Vergangenheit verfließt mit der Gegenwart und realisiert sich dem Hörer in der Zukunft. Doch das Publikum hat, wie in der Wiener „Burg“ und der Mailänder „Scala“ Aug‘ und Ohr ohnehin nicht für die Inszenierung, sondern allein für den Protagonisten: Meissner.

Der Erzbischof spielt sich warm, präludiert über den Geburtstag der Kirche, und das Publikum beteuert murmelnd: „Meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld“. Retardierendes Zwischenspiel. Ein in die Jahre gekommener Chorknabe trägt bemerkenswert ausdruckslos aus der Apostelgeschichte vor. Das muß so sein. Vor dem großen Sprung ist es ratsam, einen Schritt zurückzutreten. Danach kommt der Event.

Als Meissner, umflackert von Blitzlichtern, umtost von den Seufzern blickheischender Fans, lässig segnend an mir vorbeizog, sah ich sein müdes, angekränkeltes Gesicht.

Jetzt auf dem Proszenium blüht er auf. Römerbrief. Mit kraftvoll zupackender, metallischer Stimme schmettert er los: „Wer vom Fleisch bestimmt ist, kann Gott nicht gefallen!“ Kein Mensch, auch wenn er dergleichen erwartet hat, kann sich dem entziehen. Schon bald aber schafft sein Ideengang Irritation.

Das Manuskript vor der Nase, scheint er dennoch wildwüchsig zu extemporieren. Vom Jesus, der durch die geschlossene Tür tritt und seine Jünger anhaucht, spricht er. Und plötzlich: „Alles falsche Handeln beginnt mit falschem Denken.“ Unruhe ist spürbar. Was ist mit dem Geist, der Gutes will und Böses schafft?

Da breitet Meissner grandios die Arme aus und ruft: „Man versteht einander, obwohl wir verschiedene Sprachen sprechen.“ Nicht die Einheit des Denkens sei entscheidend, nicht das Überreden, sondern die Verständigung.

Von Verständigung spricht er, durch die er nie Kölner Erzbischof geworden wäre! Bald fällt er ganz aus der Rolle, versucht sich im Populären: „Der Herr hält nicht die Luft an!“, im Allgemeinpolitischen: „Eine Lösung parat haben zu müssen, ist Arroganz“, dann in der Ausländerpolitik: „Die Allergie gegen den fremden Zungenschlag muß dem Hinhören weichen.“ Warum? Um zu lauschen, „ob da nicht ein neues Gotteslob zu hören ist“.

Später purzeln ihm die Sprachbilder unkontrolliert durcheinander, er erzählt vom Heiligen Geist, den man mit Knüppeln erschlagen kann, der aber nicht unter die Erde zu kriegen ist, vergleicht die Kirche - aufgepaßt! - mit einem Stehaufmännchen, den Geist Gottes mit dem Blei unter seiner Gürtellinie. Nicht genug, er verwechselt in gleichem Atemzug dieses Blei mit dem Senkblei! Wie Lots Weib hätte er erstarren müssen nach solch gravierendem rhetorischen Lapsus!

Aber nein, er stürmt weiter: „Die Kirche ist unüberwindbar, nicht, weil sie so kluge Bischöfe hat, sondern wegen des Bleis.“ - Die wendende Klimax, die sich da ankündigt, führt er unerwartet herbei: „Wir bräuchten über den Heiligen Geist nicht zu reden, wenn wir ihn hätten.“

Ein Aufatmen geht durch die Bankreihen. Doch wer dachte, der Kelch sei an ihm vorübergegangen, hatte sich geirrt. Wandlung. Vater unser. (Das Copyright für die lateinische Version hält jetzt allein die Lift-Industrie.) Meissner und Kollege haben beide Hände erhoben, so als hätte das Publikum ihnen die Pistole auf die Brust gesetzt. Mit Brecht möchte ich an dieser Stelle mehr Realismus einfordern: die Gläubigen mit erhobenen Händen - das entspräche eher den Machtverhältnissen.

Nehmet und esset, nehmet und trinket. Die Verspeisung des Herrn verlief vergleichsweise ungeordnet unter Glockengeläut, Halleluja-Chor und einer futuristischen Orgelpassage, die ihre Herkunft aus der Noise-Art nicht verleugnen konnte. Schließlich, vor dem apostolischen Segen und einem Ablaß-Angebot, schlägt der Sprachvirtuose Meissner noch einmal zu: „Gebe der Heilige Geist so viel Aufwind, der uns glücklich durch alle Tiefen des Lebens führe.“ Kaum zu glauben.

Ich sah ein belustigtes Lächeln auf so manchem Gesicht: Eine Taube spazierte im Dom umher und pickte die geistlichen Brosamen auf. Die schlechten ins Kröpfchen.