Frühling in Peking

■ Die Fronten tauen auf

Nach Jahrzehnten voller Mißtrauen, Vorurteilen, ideologischen Auseinandersetzungen, verletzten Eitelkeiten, fürsorglichen Umklammerungen und tödlichem Haß versuchen die Giganten Asiens, die Sowjetunion und die Volksrepublik China, jetzt eine vorsichtige Annäherung. Gestern traf Michail Gorbatschow in Peking Chinas Deng Xiaoping. Ein Wendepunkt am Ende der Eiszeit.

Die Propagandaschlacht zwischen den Genossen in Peking und Moskau wogte schon seit bald zehn Jahren hin und her, da sprachen am 2.März 1969 die Waffen. Im Osten Sibiriens, auf dem zugefrorenen Grenzfluß Ussuri, kämpften Soldaten der Roten Armee gegen Patrouillin der Volksbefreiungsarmee. Ein kleines Scharmützel um eine nicht einmal einen Quadratkilometer große Insel wuchs sich zu einer regelrechten Schlacht aus. Beide Seiten hatten Dutzende von Gefallenen zu beklagen. Die sowjetische Illustrierte 'Ogonjok‘ schäumte danach: „Die rasenden, kannibalistischen, nationalistischen Ideen Maos, des selbsternannten obersten Führers, haben Millionen von Chinesen verhext.“ Die Pekinger Agentur 'Xinhua‘ konterte: „Die neuen Zaren im Kreml sind wie Ratten, bei deren Anblick jedermann ruft: 'Tötet sie!'“ Die Beziehungen beider kommunistischer Weltmächte hatten ihren Tiefpunkt erreicht.

Geschossen wurde nach den heftigen Grenzzusammenstößen am Ussuri nur noch sporadisch, doch über die rund 7.500 Kilometer langen Grenze senkte sich ein Eiserner Vorhang als Symbol der Spaltung des internationalen Kommunismus. Die ungelöste Grenzfrage war eine der Wurzeln des Zerwürfnisses. Sie reicht bis in das vorige Jahrhundert, als die Völker unter der Herrschaft der Zaren in Sankt Petersburg für die Söhne des Himmels noch die „Barbaren im Norden“ waren. 1858 nahm der russische Generalgouverneur Graf Nikolai Murawiew der maroden Quing-Dynastie 600.000 Quadratkilometer ab, und dies war nur einer der zahlreichen „ungleichen Verträge“, mit denen zuerst England, später alle Westmächte das Reich der Mitte in die Knie zwingen wollten.

Die russische Dominanz wurde auch durch die Oktoberrevolution nicht aufgehoben - im Gegenteil: Die 1921 in Schanghai gegründete Kommunistische Partei stand unter der Kuratel der Komintern, die den chinesischen Genossen verordnete, ihren Rückhalt nicht bei der überwältigenden Mehrheit der Bauern, sondern in der kaum existenten Arbeiterklasse zu suchen. Die „weißen Teufel“ aus Moskau befahlen den chinesischen Genossen auch die erste Einheitsfront mit der Kuomintang; eine Strategie, die im März 1927 in dem Massaker der Truppen Chiang Kai-cheks an kommunistischen Gewerkschaftern in Schanghai ihr blutiges Ende fand. Als Mao Zedong, den Stalin schließlich als Führer des Befreiungskampfes anerkennen mußte, 1949 nach insgesamt vierzehn Jahren Bürgerkrieg die Volksrepublik China ausrufen konnte, hatte er dieses Ziel mit einer entgegengesetzten Strategie erreicht. Seine Guerillaarmee hatte zuerst das Land und zuletzt die Städte erobert.

Die Sowjetunion unterstützte den Aufbau des zerrütteten Landes, doch spätestens als der in China kultisch verehrte Stalin endlich gestorben war, begann die Fassade der antiimperialistischen Solidarität zu bröckeln. Mao fühlte sich schnöde übergangen, als Chruschtschow 1956 die Entstalinisierung inszenierte, ohne ihn zuvor zu konsultieren. Die Pekinger Führung initiierte dafür ohne Absprache mit Moskau das aberwitzige Wirtschaftsexperiment des „großen Sprungs nach vorne“ und prägte den Begriff des eigenständigen „chinesischen Wegs“. Die Moskauer Genossen sahen sich in ihrer Rolle als Führungsmacht des sozialistischen Lagers bedroht.

Rassismus

und Größenwahn

Auch wenn im Untergrund auf beiden Seiten immer Rassismus, Nationalismus und asiatisches Großmachtdenken gärten, als Nikita Chruschtschow Anfang August 1958 Peking besuchte, war die kommunistische Welt zumindest vordergründig noch in Ordnung. Im Schlußkommunique des Treffens wurden die „kriegslüsternen, imperialistischen Wahnsinnigen“, für den Fall, daß sie einen Krieg anzetteln würden, gewarnt, „daß alle freiheitsliebenden Staaten und Völker eng zusammengeschlossen den imperialistischen Aggressoren für immer ein Ende machen und den ewigen Frieden in der ganzen Welt errichten werden“. Man gelobte feierlich, die „heilige Einheit“ zu wahren und gemeinsam „für die Reinheit des Marxismus-Leninismus zu kämpfen“.

Als Chruschtschow dann im Oktober 1959 wieder in Peking eintraf und Mao sich ihm entwand, als er dem „Großen Steuermann“ den Bruderkuß aufdrücken wollte, wehten keine Fahnen, ihn zu begrüßen. Vielmehr prangten die Porträts von Marx, Engels, Lenin und Stalin sowie Mao Zedongs auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Seine Gastgeber führten ihm demonstrativ eine imposante Parade chinesischer Panzer und Flugzeuge vor. Die Chinesen waren verstimmt darüber, daß ihnen die Genossen bei der Entwicklung der Atombombe die Hilfe verweigert hatten und die neue sowjetische Idee vom „friedlichen Übergang zum Sozialismus“, und die Annäherung der beiden Supermächte unter dem Stichwort „friedliche Koexistenz“ waren ihnen äußerst suspekt. Mao rechnete ohnehin mit einem neuen Weltkrieg. Er kritisierte, daß die sowjetische Führung die Befreiungskämpfe der Völker der Dritten Welt geradezu sabotiere. Als Moskau sich schließlich 1959 bei dem Konflikt zwischen Indien und China nicht eindeutig auf die Seite des roten Bruders schlug, war der Faden endgültig gerissen. Die Chinesen warfen den Moskauer Genossen „Revisionismus“ an den Lehren Marx‘ und Lenins vor. Die Sowjets zogen im Sommer 1960 ihre damals noch 1.300 Berater ab. Insgesamt waren in den letzten zehn Jahren fast 13.000 sowjetische Techniker und Ingenieure im Land gewesen. Noch mehr Fachleute aus China - unter ihnen auch der heutige Ministerpräsident Li Peng - wurden in der UdSSR ausgebildet. Das abrupte Ende dieser Beziehung gab der durch den „großen Sprung nach vorne“ geschwächten chinesischen Wirtschaft den Rest.

Es war freilich noch ein letzter Versuch zu verzeichnen, den Konflikt um die korrekte „Generallinie“ für die kommunistische Weltbewegung beizulegen. Im Juli 1963 weilte eine vierzigköpfige chinesische Delegation unter Führung Deng Xiaopings zwei Wochen in Moskau. In streng vertraulichen Gesprächen stritt Deng mit Michail Suslow. Die Gespräche endeten nach mehreren Unterbrechungen ohne Ergebnis.

Zwei Jahre später legte Alexei Kossygin auf der Reise von Nordkorea nach Nordvietnam einen Zwischenstopp in Peking ein und wurde überraschend von Mao empfangen, doch dies bedeutete nicht, daß die Kampagne gegen die „revisionistische Renegatenclique“ gestoppt worden wäre. Sie erreichte erst in der Kulturrevolution ihren Höhepunkt, als Rote Garden die sowjetische Botschaft in Peking belagerten. Die Sowjetunion ihrerseits ließ den, Personenkult um Mao, den „politischen Terror“ oder den „Sinozentrismus“, den „Eklektizismus, Primitivismus und Utilitarismus“ der Lehren Maos aburteilen.

Das sino-sowjetische Schisma entzweite Kommunisten in aller Welt, Maoisten spalteten sich von Moskauer Parteien ab. Die Studentenrevolte der sechziger Jahre brachte maoistische Parteien hervor, die die Volksrepublik China treu verteidigten, auch wenn das einen Schulterschluß mit dem von Mao bewunderten Schlächter Pol Pot bedeutete. Ho Chi Minh hingegen, der es immer verstanden hatte, sowohl in Moskau als auch in Peking Geld, Waffen und Reis für den Befreiungskrieg Vietnams lockerzumachen, schrieb in seinem Testament. „Ich leide unter den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bruderparteien, aber glaube fest daran, daß sie wieder vereinigt werden können.“

Als Ho Chi Minh am 9. September 1969 zu Grabe getragen wurde, spielte sich in Hanoi eine eigenartige Szene ab. Der chinesische Premierminister Zhou Enlai kondolierte und reiste sofort wieder ab - um zu verhindern, daß er sich mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Alexei Kossygin getroffen hätte. Doch im Hintergrund versuchten die Sowjets ein Treffen auf höchster Ebene zu arrangieren, um die explosive Situation am Ussuri zu entschärfen.

Alles, was Kossygin bei seinem anschließenden Besuch in China sah, waren der Flughafen in Peking und Ministerpräsident Zhou Enlai mit seiner Delegation. Im 'Neuen Deutschland‘ hieß es unter Berufung auf 'Tass‘: „Beide Seiten legten offen ihre Standpunkte dar und führten eine für beide Seiten nützliche Unterredung.“ Es war die letzte für knapp zwanzig Jahre. - China geißelt weiter den sowjetischen Sozialimperialismus und stellte sich gegen den gestürzten chilenischen Präsidenten Allende auf die Seite Pinochets. Der russische Bär, der aus der Sicht der Chinesen immer nach Süden will, war zum Hauptübel der Menschheit avanciert. „Wortbrüchig, selbstsüchtig und skrupelos“, so geißelte Deng, der heutige Gastgeber Gorbatschows, 1974 vor der UNO die Sowjetunion. „Der Grad, in dem sie auf Kosten anderer Profite macht, ist selbst bei anderen imperialistischen Ländern selten zu finden.“

Michael Sontheimer