Gorbis Stern über China

Die Revolution versöhnt ihre Kinder / Eine Million auf Pekings Straßen fordern Demokratie / Polizei und Militärs machtlos  ■  Von Jürgen Kremb

(Peking/Berlin) - Eine Million Menschen waren gestern in Peking auf den Straßen und inszenierten ein politisches Spektakel von bislang nicht gekanntem Ausmaß. Sie feierten nicht nur Michail Gorbatschow, der nach dreißig Jahren Eiszeit zwischen den kommunistischen Weltmächten die Normalisierung einleitete. Sie demonstrierten auch ihre Unterstützung für die 3.000 Studenten, die seit vier Tagen auf dem Platz des Himmlischen Friedens für demokratische Freiheiten und Bekämpfung der Korruption unter chinesischen KP-Kadern in einen Hungerstreik getreten waren. Nachdem die Verhandlungen zwischen den StudentInnen und einer Regierungsdelegation am Sonntag abend ergebnislos abgebrochen worden waren, hatten Zehntausende die Nacht hindurch auf dem Platz ausgeharrt, um eine drohende Räumung zu verhindern. Nicht nur die StudentInnenkomitees, sondern erstmals auch ProfessorInnen und WissenschaftlerInnen hatten für die gestrige Großdemonstration der Intellektuellen mobilisiert. Der Zug übertraf alle Erwartungen. „Willkommen Gorbatschow,“ hieß es in chinesischen Schriftzeichen und englischen Lettern auf Plakaten und Spruchbändern. „Glasnost für Perestroika“ oder „I love Perestroika“, war an anderer Stelle zu lesen. StudentInnen trugen kämpferische Transparente: „Hungerstreik bis zum Sieg“ oder „Dialog sofort“.

Mindestens 200.000 StudentInnen strömten in einem schier endlosen Zug in die Innenstadt - darunter etliche bunte Vehikel. „Regierung: Verkaufe Mercedes Benz - Zahle Auslandsschulden zurück“, spottete ein Spruchband über die Erwerbssucht der Kader nach Bereicherung mit westlichen Konsumgütern. Die angesichts der friedlichen Massen vollkommen handlungsunfähige Polizei zog sich bald zurück. Vom Stadtrand bis ins Zentrum - Menschen, Menschen, Menschen. Sie feierten die StudentInnen und applaudierten besonders den ProfessorInnen, die in einen eigenen Block marschierten. „Wir fordern Demokratie, Reformen und einen breiten Dialog“, skandierten sie. „Unterstützen Sie die Studenten, spenden Sie für den Streik.“

Ein harter Tag für den Protokollchef des kommunistischen Gipfels. Die StudentInnen brachten das Programm gründlich durcheinander. Bereits die offizielle Begrüßungszeremonie, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens geplant war, mußte kurzfristig auf den alten Flughafen verlegt werden, da die für Demokratie und Pressefreiheit demon Fortsetzung auf Seite 2

stierenden Studenten den Platz besetzt hielten. Sowjetbürger, die in Peking weilten, schienen fassungslos, daß die Polizei das Treiben gewähren ließ.

Die Route, auf der die sowjetischen Gäste von dem 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernten Flughafen in die Stadt kutschiert wurden, mußte kurzfristig abgeändert werden. Das Treffen zwischen Gorbatschow und dem chinesischen Präsidenten Yang Shangkun wurde um

zwei Stunden verschoben.

Zeit genug für den chinesischen KP-Chef Zhao Ziyang, die Studenten mit dem Fernglas vom Nordende des Platz des himmlischen Friedens unbemerkt zu beobachten. Die Studenten haben weitere Gespräche mit ihm abgelehnt. Wie Korrespondenten berichten, wirkten die Studenten nach ihrem viertägigen Hungerstreik geradezu aufgeputscht. In japanischer Tradition - mit einem Stirnband um den Kopf geschlungen - haben einige schon angekündigt, sich selbst zu verbrennen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Am Nachmittag schrie ein Aktivist ins Mikrophon, daß die 38. Militäreinheit aus Baoding - eine Eliteeinheit - den Befehl der politischen Führung verweigert habe, den Platz zu räumen, um einen reibungslosen Ablauf des Gipfels zu gewährleisten. Tosender Beifall der Massen brauste auf.

Später wurde verkündet, daß sich 70.000, das sind mehr als ein Drittel der Stahlarbeiter in Pekings größter Hütte, den Aktivisten für mehr Demokratie angeschlossen hätten. Für Mittwoch hat ein Sprecher des sowjetischen Außenministeriums angekündigt, daß Gorbatschow sich mit chinesischen Studenten treffen werde. Die Begegnung könnte im Rahmen eines Gesprächs mit „Wissenschaftlern, Arbeitern und Bauern“ stattfinden, sagte er.

Bei seiner Ankunft hatte Gorbatschow seinen China-Besuch als „Epochen-machend“ bezeichnend. „Wir sind im Frühling nach Peking gekommen“, sagte er in Begleitung seiner Frau Raissa. „In der ganzen Welt verbinden die Menschen diese Jahreszeit mit Erneuerung und Hoffnung.“ Das scheint sich in der VR China voll und ganz zu bestätigen. Schon vor Tagen hatten gewöhnlich gut informierte Hongkonger Zeitungen berichtet, daß Chinas starker Mann Deng Xiaoping sich nach dem Treffen mit seinem sowjetischen Gast aus der aktiven Politik zurückziehen werden. „Danach wird für China kurzfristig eine unruhige Zukunft hereinbrechen“, hatte der energische Reformer und Sozialwissenschaftler Su Shaozhi in einem Telefoninterview mit der taz orakelt. „Doch wenn die Massen erstmal erwacht sind, gibt es kein zurück mehr.“