Reformer siegen bei Nachwahlen in UdSSR

■ Ligatschows Kritiker und Antikorruptionsanwalt Iwanow zum Volksdeputierten gewählt, der 'Ogonjok'-Chefredakteur auch

Berlin (afp/ap/taz) - Bei einer weiteren Runde der Wahlen in der Sowjetunion zum neuen Volkskongreß hat sich am Sonntag der seit Beginn der Wahlen im März erkennbare Trend zugunsten nonkonformistischer und reformfreudiger Kandidaten durchgesetzt. Wenn auch in den meisten der 192 Wahlkreise noch immer kein Kandidat die 50prozentmehrheit übersprungen hat, so kam es in Leningrad und in der Ukraine doch zu spektakulären Siegen profilierter Reformanhänger. So gelang es dem von konservativer Seite heftig bekämpften Chefredakteur der Reformerzeitung 'Ogonjok‘, Nitalij Korotitsch, in der westukrainischen Stadt Charkow über 80 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinigen. Und in Leningrad konnte der durch seinen spektakulären Antikorruptionskampf bekannte Untersuchungsrichter Nikolai Iwanow über 60 Prozent der Stimmen gewinnen, obwohl noch am Samstag in der Parteizeitung 'Prawda‘ heftig gegen ihn polemisiert wurde. Er hatte es nämlich gewagt, den Nestor der Konservativen, das Politbüromitglied Jegor Ligatschow, in Zusammenhang mit den Korruptionsskandalen in Usbekistan zu bringen.

Auf der anderen Seite nahmen nach Angaben der Regierungszeitung 'Iswestija‘ auch prominente Parteifunktionäre die Wahlhürde: Vor allem dort, wo sie ohne Gegenkandidaten angetreten waren, gelang ihnen der Erfolg. So ist nun der Parteichef der tadschikischen Hauptstadt Duschunbeh und der Vorsitzende des kasachischen Schriftstellerverbandes, Oljas Suljenow, Abgeordneter. In den Wahlkreisen, wo kein Kandidat 50% der Stimmen erhalten konnte, wird am 21.Mai nochmals gewählt.

Hauptgesprächsstoff in Leningrad war die Wahl des Untersuchungsrichters Nikolai Iwanow. Es ist offenbar für sowjetische Wähler sehr attraktiv geworden, wenn die Kandidaten in ihrem Wahlkampf den meistgehaßten Mann der Parteispitze, Jegor Ligatschow, aufs Korn nehmen. In einer Fernsehsendung am Freitag abend hatte der „Unbestechliche“ für eine Sensation gesorgt. Ligatschow, so der Untersuchungsrichter, habe die Ermittlungen in der usbekischen Bestechungsaffäre, die voriges Jahr hohe Wellen schlug, zu blockieren versucht. Triumphal ist der Sieg Iwanows auch deshalb, weil der nächstplazierte der 28 Gegenkandidaten gerade 5 Prozent der Stimmen in diesem Wahlkreis auf sich vereinigen konnte. Nur 1,5 Prozent der Stimmen erhielt der vom Parteiapparat unterstützte Konkurrent des Journalisten Witalij Korotitsch. „Der lokale Parteiapparat hat mir mit der Unterstützung meiner Gegner sehr geholfen“, kommentierte Korotitsch seinen Erdrutschsieg.

In der armenischen Hauptstadt Erewan erhielten die vier Kandidaten der parteiunabhängigen Nationalbewegung mehr als 80 Prozent der Stimmen. Der Schriftsteller Karen Simonian, die Moskauer Ethnologin Galina Starawoitowa sowie die beiden Kandidaten Sero Chansadian und Soss Sarkissan forderten in ihrem Wahlkampf vor allem die Freilassung der seit fünf Monaten ohne Urteil inhaftierten Mitglieder des Karabachkomitees, die vergeblich für eine Wiedereingliederung der zu Aserbaidschan gehörenden armenischen Enklave Berg-Karabach gekämpft hatten. Am 20.Mai, so wurde ihren Anwälten mitgeteilt, sollen die Ermittlungen abgeschlossen sein, hieß es am Montag, vielleicht schon als Konsequenz aus dem Ausgang der Wahlen. Im ersten Wahlgang war die Wahlboykottkampagne erfolgreich, so daß die vier Unabhängigen in die Wahlliste für die Nachholwahl aufgenommen werden mußten.

Auch in Weißrußland siegte der Vertreter der Volksfront Ignatow mit über 55 Prozent der Stimmen, obwohl er im Wahlkampf behindert worden war und nur in Hinterhöfen auftreten konnte. Seine von der Partei unterstützten Gegenkandidaten erhielten zusammen nur 38 Prozent der Stimmen.

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