IM WOHNGRAB IST GUT STERBEN

■ „Ach wie gut, daß niemand weiß...“ - Joan M. Giroux bei Urban Art

Wer die Möglichkeit hat, ein Gaspedal oder ein Klavierpedal zu drücken, der tut es auch. Selbst wenn es offensichtlich ist, daß der ausgelöste Effekt sinn- und zwecklos ist und weder Bildungsstand hebt noch das Bruttosozialprodukt steigert. Der Stuhl bewegt sich auf halben durchgeschnittenen Felgen wie ein Schaukelstuhl hin und her, nur gehalten und gelenkt von einem bunten Netz von Fäden, an der Wand und am Boden festgemacht. Das goldene Pedal schmeißt den Stuhl, der für keinen Müden gedacht ist, heftig vor und zurück. Eine gymnastische übung für die Fußmuskeln und ein Spiel mit verbotenen Lüsten: reißen die Fäden und löst sich das Kunstwerk auf in seine Bastelbestandteile, in Heimwerkerfreude und Hausfrauenglück?

Wer seine Bilder nicht mit Leberwurst, sondern mit Reißnägeln an die Wand pinnt, hat sich selbst verkauft und verraten. Die ungehemmte Hinwendung zur Nützlichkeit, zur Verständlichkeit und zum Vermitteltsein von allen Dingen bringt ernstgemeinte Langeweile hervor. Wo Koffer mit Kleidern gefüllt sind, Räder fahren und Schilf natürlich wächst (in touristischen Gegenden), behauptet die Amerikanerin Joan M. Giroux, die nach anderen miesen Jobs nun ausgerechnet dieses Produkt jeden Morgen verkaufen muß, das Gegenteil. Der Koffer ist ein kafkaeskes Insekt mit Kinderwagenfühlern und einem wilden Sensorium, das den geschlossenen Panzer nach außen durchbricht und in der Bewegung dieses Insekts hin- und herzuschwingen scheint. Der Koffer öffnet sich wie ein Fischmaul, um vielleicht in nächster Sekunde zuzuschnappen, als Beute den neugierigen Blick des Betrachters.

Giroux‘ erste Aktion in Berlin war eine Ausstellung im FFBiZ: „Ein Kaiser hat befohlen, keine Bücher sollten sich innerhalb der Chinesischen Mauer befinden“, eine Mauer aus 650 ausrangierten Telefonbüchern. Auch in „Urban Art“ sind die Materialien Konsum- und Alltagsartikel. Feinste Apparaturen aus Klavierfedern, Plattenspielern und anderen unersetzlichen Gegenständen des täglichen Lebens werden konstruiert, um ein Plastikbabybein um die eigene Achse drehen zu lassen. Das Ereignis läßt sich von allen Seiten, aber am besten durch einen Kasperltheaterrahmen begutachten, dessen Vorhänge man auf- und zuziehen kann. Überhaupt sind Voyeure und Mitmachfreudige gefordert, denn Giroux will, daß Kunst nicht nur dumm zur Anbetung herumsteht, sondern eingenommen und verdaut wird: rangehen, reinschauen, rumgehen, Knöpfe und Pedale auslösen. In New York, wo Giroux Bildhauerei studiert hat, haben die AusstellungsbesucherInnen einst vergeblich nach dem Kunstwerk gesucht. Es bestand hauptsächlich in einer Tür, die in einen Raum mit Geräuschen führte.

Wo die herkömmliche Aufbereitung von Kunst aussetzt, wird entweder nichts (das ist auch eine Erfahrung) oder anders wahrgenommen. Um eines der hier entstandenen Objekte zu fotografieren, hat Giroux ihren San Sebastian, ein mindestens lebensgroßes schmales Kunstwesen auf vier Beinen und mit viereckigem Rahmen in Kopfhöhe, am Straßenrand neben einem Baum aufgestellt und die ungeplante Betrachterin mitbelichtet. Diese Situation wiederholt sich an anderen Objekten, die Betrachterin ist bereits mitinstalliert. Spiegel, Rahmen, Perspektiven lenken den Blick und werfen ihn zurück.

San Sebastian trägt im Innern seines geblümelten tapezierten Leibs den mit Pfeilen gespickten, lieb lächelnden Märtyrer als Heiligenbildchen, und aus dem freundlichen Mief der abendländischen Sadismuskultur quellen Plastikblumen hervor. Das Objekt setzt sich selbst nochmal einen Rahmen auf, als müßte es Liebhabern von röhrenden Hirschen und einfarbiger Konzeptkunst zugleich beweisen, daß es Kunst ist, weil seine Materialien Müll und Hausrat auch nach der künstlerischen Tat immer noch Müll und Hausrat sind, allerdings ihrer ursprünglichen Funktion beraubt. Der Schrubber dient jetzt als Ständer für ein Tablett mit einem wehrhaften Palisadenzaun aus spitzen, ungleichen Bleistiften, aus dem Tablettgriff quellen synthetische Drähte hervor, Rapunzelhaar, das die Symmetrie der Bleistiftzinne stört.

Die Assoziation zum Rapunzelturm ist erst später entstanden, aber das nächste Objekt, das kleiner, aber ähnlich aufgebaut ist, heißt folgerichtig Rapunzels Schwester. Was schließlich wie zusammengefügt wird, hängt vom Prozeß der Arbeit und vom Zufall ab. Die Klavierteile der Ausstellung verdankt Giroux der Wegwerfwut der HdK, die ein kaputtes Klavier gerade abwracken wollte. Giroux nennt sich selbst „a packrat“, so sagt man in den USA zu den „Packratten“, die alles aufheben und sammeln müssen zu undefinierbaren Zwecken. Amerikanische Kinder werden außerdem im Malunterricht zu einem abschreckenden Anarchismus erzogen, den sie nachher wahrscheinlich nie anwenden werden: Bevorzugtes Malthema ist - so Giroux nämlich das „Mad Scientist Laboratory“, ein zugestellter Raum mit einem glatzköpfigen, kleinbebrillten, verrückten Wissenschaftler, der mit Fläschchen und Reagenzgläsern Explosionen ohne Zweck veranstaltet. Etwas von diesen Zaubereien hat Giroux anscheinend behalten. Wenn der Zwang der Nützlichkeit den Dingen genommen ist, kommen ihre magischen Eigenschaften ans Licht: Material, Form und Konsistenz werden überdimensional, vergröbert, verzerrt wahrgenommen, wie im Märchen. Wenn man Glück und Fantasie hat, ist dort die Wirklichkeit zuhause.

Dorothee Hackenberg

„Ach wie gut, daß niemand weiß, oder, wie man sich gnädigst aus einem Raum empfiehlt“ bis 28. Mai, Do-So 17-20 Uhr, bei Urban Art, Wiener Straße 12, 1-36