Schreiendes Unrecht

Zwei Filme in Cannes wollen Vergangenheit bewältigen  ■  Aus Cannes Thierry Chervel

Letztes Jahr in Cannes hatte Marcel Ophüls‘ Hotel Terminus nicht vorgeführt, wie banal das Böse ist, sondern vor allem auch, wie gegenwärtig - die Leute leben ja noch und haben ihre Nachfahren und Anwälte - und wie heillos kompliziert und formlos: Massenmörder sind auch gute Familienväter und Kameraden, Alliierte bedienen sich ihrer als Spione gegen andere Alliierte, Widerstandskämpfer bekämpfen sich auch untereinander bis aufs Blut, Antifaschisten können auch Antisemiten sein.

Dieses Jahr tun zwei Filme des Wettbewerbs, Jerry Schatzbergs Reunion und Bernhard Wickis Spinnennetz (nach Joseph Roth) dem Bösen ein schreiendes Unrecht an. Sie bannen es ins Bild, stutzen es in eine Form, rauben ihm die Virulenz.

Reunion: Nach über 15 Jahren kommt Hans Strauss aus Amerika in seine alte Heimatstadt Stuttgart zurück, um endlich den Nachlaß seiner Familie aufzulösen und um seinen besten Klassenkameraden, Graf von Lohenburg, zu loben. Strauss ist Jude. Seine Eltern hatten ihn fortgeschickt, weil er nicht mehr sicher war. Sie selbst sind zurückgeblieben und haben sich das Leben genommen. Strauss kramt also in alten Familienmöbeln und erinnert sich an seine Freundschaft zu Lohenburg, den die Nazis, wie sich herausstellt, als einen der Hitlerattentäter gehenkt haben.

Strauss‘ Erinnerungen präsentieren sich uns, wie das so üblich ist, als Rückblende, die farblich in eine Art koloriertes Postkartenschwarzweiß zurückgenommen ist. Die Risse und Lücken muß man in solchen Filmen immer genau dort suchen, wo sie innig und kontinuierlich sein wollen: in den Rückblenden wird Englisch gesprochen, nicht Deutsch. Aber Schatzberg hat, um es doch ein bißchen vom heutigen Amerikanisch wegzurücken, das so gar nicht passende, kontinentale Englisch gewählt. Strauss ist also ein deutscher Jude, der als alter Mann breitestes Amerikanisch spricht und als Jugendlicher - wie übrigens die Nazis auch distinguiertes BBC-Englisch. Lächerlich. Da sagt der Vater Sätze wie: „This is the land of Goethe, of Schiller, of Beethoven!“ Wenig später legt er seine Weltkrieg-I-Uniform an, rückt das Eiserne Kreuz zurecht und dreht den Gashahn auf. Für dieses Drehbuch ist Harold Pinter verantwortlich.

In Joseph Roths Roman Das Spinnennetz von 1923 geht es um den Aufstieg eines Weltkrieg-I-Leutnants in einer rechtsextremen Organisation. Bernhard Wicki hat diesen Roman für 15 Millionen Mark verfilmt. Warum eigentlich?

Auch dieser Film ist versiert erzählt, aber auch hier ist eine ständige Kosmetik am Bild unumgänglich. Berlin ist natürlich viel zu kaputt, als daß man dort eine Geschichte drehen könnte, die 1923 spielt. Also muß Prag sich hergeben. Nur wenige Szenen spielen an Berliner Originalschauplätzen. Zum Beispiel als die Siegessäule gesprengt werden soll - an sich eine gute, leider niemals verwirklichte Idee. Wicki zeigt die Siegessäule aus den verrücktesten Perspektiven, nur damit nicht sichtbar wird, daß eine moderne Straße heute drumrum führt. Hinter der Säule ist Leere. Das ist verrückt, denn eigentlich müßte da das Reichstagsgebäude zu sehen sein, vor dem sie damals noch stand. Erst die Nazis haben sie versetzt.

Warum den Aufstieg der Rechtsradikalen 1923 zeigen, wenn es 1989 „Republikaner“ gibt? Ich habe den Verdacht, der ganze Aufwand wird nur betrieben, um die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen. Dabei hatte Hotel Terminus gezeigt, wie dringend notwendig es immer noch ist, ihre Gegenwart zu bewältigen.