Frühlingserwachen in China

■ Über eine Million Chinesen solidarisierten sich gestern mit den demonstrierenden Studenten

Chinas zweite Kulturrevolution ist in eine neue Phase getreten: Zum Schrecken der Bonzen haben sich gestern auch Bauern, Beamte und Soldaten den Forderungen der Studenten nach weniger Korruption und mehr Demokratie angeschlossen. Nur gut, daß Peking-Tourist Gorbatschow da war, um Trost zu spenden: „Auch wir haben unsere Hitzköpfe“, sagte er zu Parteichef Zhao Ziyang.

Seit Menschengedenken war den Chinesen der Zutritt zur „Verbotenen Stadt“ strengstens untersagt. Gestern sorgten die Massen dafür, daß auch die neuen Exzellenzen draußen bleiben mußten: Der geplante Besuch Raissa und Michail Gorbatschows im Kaiserpalast mußte wegen der Massendemonstration von einer Million Menschen in der Pekinger Innenstadt abgesagt werden.

Noch immer bietet der Platz des Himmlischen Friedens ein Bild der irdischen Aufruhr. Am späten Dienstag abend hatten sich zwölf in Trauer gekleidete Studenten mit Benzin begossen und drohten, sich umzubringen, wenn bis Mitternacht keine Verhandlungsergebnisse vorlägen. Doch soweit war es nicht gekommen: Parteichef Zhao hatte am Dienstag abend zugesagt, die Studentenforderungen nach mehr Demokratie zu berücksichtigen und einen Dialog mit Studentenvertretern voranzutreiben, wenn diese ihren Hungerstreik beendeten und wieder in die Universitäten zurückkehrten.

Doch auch diese Worte des himmlischen Friedens konnten die Demonstranten nicht in die Betten locken.

Von Mao lernen:

die Einheitsfront

Nach fünf Tagen und Nächten Hungerstreik von über 3.000 Studenten sind die Proteste in ein qualitativ neues Stadium getreten. Den Studenten ist es gelungen, einen alten Traum des großen Vorsitzenden Mao zu realisieren: das Bündnis von Arbeitern, Studenten und Bauern. Die Spruchbänder, die gestern, am „Tag der Danwei“, der Arbeitseinheiten, auf dem Marsch vom Tiananmen-Platz zur Verbotenen Stadt hochgehalten wurden, lassen keinen Zweifel mehr daran, daß sich mehrere, bislang eher unbeteiligte Berufs- und Gesellschaftsgruppen den Studenten angeschlossen haben. Neben Journalisten waren am Mittwoch auch Lehrer, Professoren sogar der Kaderschulen, Wissenschaftler, Hausfrauen, Schüler, Beamte, Bauern und Arbeiter der verschiedensten Fabriken und Arbeitseinheiten zu sehen.

An dem Protestmarsch beteiligten sich auch - horribile dictu! - mindestens 1.000 Militärangehörige, ein Teil davon im Kampfanzug. Ihre mitgeführten Transparente identifizieren sie als Mitarbeiter des Generalstabsamtes, der Logistikverwaltung und der politischen Verwaltung der Streitkräfte. Ein Leutnant erklärt: „Wir sind nur reguläre Soldaten. Auch wir wollen Demokratie und Freiheit.“

„China wacht auf“, verkündet eine Banderole, getragen von den Arbeitern des Chinesischen Erdbebenbüros. Und Chinas Elite-Eggheads von der Akademie für Sozialwissenschaften erwidern: „Schweigen ist ein Verbrechen!“ Die Arbeiter der Papierfabrik Nr.1 tragen Plakate, auf denen eine Schafherde zu sehen ist - darüber die Losung: „So nicht!“ Dem Demoblock der „Kindergärtnerinnen für die Demokratie“ folgt ein Banner „Die Kiefernchirurgen grüßen die Volkspolizei“. Die allerdings ließ sich gestern nicht blicken.

An Bussen, aus mehreren Fenstern und von Balkonen hängen Spruchbänder, auf denen die Parolen der Studenten prangen. Auch der Rücktritt von Deng Xiaoping wird offen gefordert: „Deng, tritt zurück, im Interesse der Partei“, steht auf einem ausgeliehenen Stadtomnibus.

In etlichen Pekinger Betrieben ist die Produktion am Mittwoch eingestellt worden, weil die Belegschaft an der Massendemonstration im Stadtzentrum teilnehmen wollte. Arbeiter gehen nicht zur Schicht, sondern haben im Betrieb Soligruppen gegründet, die für die Studenten Spenden sammeln und Getränke und Sonnenschirme auf den Platz bringen. Ärzteteams haben die Krankenhäuser verlassen, um die wegen der Hitze ohnmächtig gewordenen Hungerstreikenden sofort versorgen zu können. Bereits 700 mußten ins Krankenhaus eingeliefert werden, nachdem viele der Studenten auch die Aufnahme von Flüssigkeit eingestellt haben. „Xuesheng!“ Studenten!, kommentieren die Passanten auf der Allee des Ewigen Friedens die vorbeiheulenden Krankenwagen.

Am frühen Mittwoch abend tauchten die ersten Bauerndelegationen auf, die in den Staus kilometerweit vor dem Stadtzentrum steckengeblieben waren. „Und ich dachte, Chinas Bauern würden niemals aufwachen“, entfährt es einem der erstaunten Beobachter. Noch beeindruckender ist es für den Beobachter, wie alle Interviewpartner das gleiche erzählen: „Die Beamten sind zu 99 Prozent korrupt, verschaffen sich und ihren Familien Wohnungen, Autos und Dienstreisen, während ich selbst mit drei Generationen auf acht Quadratmetern hausen muß“, sagt eine alleinerziehende Frau, deren Gehalt die Inflation aufgefressen hat.

Furcht vor der

Arbeitersolidarität

Auf dem Tiananmen-Platz halten nach wie vor bekannte Schriftsteller und Professoren Vorträge, die Studenten organisieren Pressekonferenzen. Über die Unnachgiebigkeit der Regierung ist die Bevölkerung in wachsendem Maße empört. Von den 220.000 Arbeitern des wichtigen „Shoudu„ -Stahlkombinats sind 70.000 in einen unerklärten Streik getreten. Während sich bei den Studentendemonstrationen die Polizei nicht blicken ließ, wimmelte es auf dem Werksgelände von Sicherheitskräften. Als Studenten zum Hauptwerk zogen, verweigerte die Polizei ihnen zunächst den Zutritt, bis die Arbeiter mit Sprechchören „Unsere Studenten kommen sofort rein oder wir kommen raus“ ein Treffen erzwangen. Bereits am Montag hatten hochrangige Regierungsvertreter im Werk einen „Dialog“ anberaumt, um Krisenmanagement zu betreiben. Eine Beteiligung der Arbeiter fürchtet die Regierung mehr als alle Studentendemos.

Am Dienstag nachmittag hatte ZK-Sekretär Yan Mingfu über Lautsprecher eine 33-Punkte-Rede auf den Platz übertragen lassen. Wichtigste Versprechen:

1. Die Regierung tagt, um zu einer Lösung der Probleme zu kommen. Der Leitartikel der amtlichen 'Volkszeitung‘ vom 26.4. (der die Studenten als antisozialistische Elemente und Chaoten bezeichnete, d. Red.) wird überdacht.

2. Die Studenten möchten bitte den Hungerstreik abbrechen, um ihre Gesundheit nicht zu gefährden. Wenn nicht, möchte er sich persönlich zusammen mit den Studenten auf den Platz setzen.

3. Er verbürgt sich persönlich dafür, daß es später keine Abrechnung mit den Aktivisten der Bewegung geben wird.

Doch die Studenten, die im Geschichtsunterricht offensichtlich nicht geschlafen hatten, lehnten dankend ab: „Wie kannst du dafür bürgen? Wenn dich die Regierung eines Tages austauscht, was ist dein Wort dann noch wert?“

In der Führung gibt es zunehmend mehr Leute, wie den Kultusminister, die für ein Einlenken sind, aber es nicht öffentlich zu sagen wagen. In wichtigen Fragen, so stellte auch Zhao Ziyang klar, habe Deng Xiaoping das letzte Wort zu sprechen. Der hüllt sich noch in Schweigen, hatte er sich doch zu Beginn der Proteste vor einem Monat in einer Rede dick verkalkuliert: „Was hätten wir zu fürchten? Wir haben eine Armee von drei Millionen Mann und die Bauern machen keine Probleme...“ Seit dem gestrigen „Tag der Danwei“ ist es mit derart Zweckoptimismus endgültig vorbei.

Thomas Reichenbach / smo