Pax Gorbatschow in Peking

■ Gorbartschow schlägt Entmilitarisierung der sowjetisch-chinesischen Grenze vor / Derweil größte Massenproteste in Peking seit Bestehen der Volksrepublik / Moskau will insgesamt 200.000 Soldaten abziehen / Gorbatschow heute in Shanghai

Peking (afp/ap/taz) - Beispiellose Massenproteste in Peking, Bewegung in Moskau - aber die sowjetisch-chinesische Grenze soll zu einer „Grenze des Friedens“ werden. Die historische Ankündigung machte der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow am Mittwoch vor Wissenschaftlern in der Großen Halle des Volkes am dritten Tag seines Aufenthalts in Peking. Draußen drängten derweil kilometerlange Menschenschlangen zu Fuß, mit Fahrrädern, mit Bussen auf den Platz des Himmlischen Friedens. Selbst vor der verbotenen Stadt, der ehemaligen Kaiserresidenz machten die DemonstrantInnen nicht Halt. Zweihundert Intellektuelle verlangten in den heiligen Hallen den Rücktritt von Deng Xiaoping und des Ministerpräsidenten Li Peng.

Nachdem sich die Demonstrationswelle für politische Reformen auf alle Gesellschaftsschichten ausgebreitet hat und gestern auch auf andere Städte wie Shanghai und Nanking überschwappte, hat Gorbatschow seine zunächst distanzierte Haltung gegenüber den „Hitzköpfen“ revidiert: „Wir müssen den politischen Dialog begrüßen“, so ermunterte er seine chinesischen Gastgeber.

Ganz in diesem Sinne ist auch der angekündigte Abbau der sowjetischen Truppen in Asien und die Forderung nach einem kollektiven Sicherheitssystem in diesem Erdteil zu verstehen. Von diesem Rückzug werden 1989 und 1990 rund 200.000 Soldaten betroffen sein. Der Truppenabbau umfasse den Abzug von 120.000 Mann an der gemeinsamen Grenze mit China, die Auflösung von elf Luftwaffenregimentern und den Abzug von 16 Kriegsschiffen der pazifischen Flotte, spezifizierte Gorbatschow. Das asiatische Sicherheitssystem sei als Teil eines „allasiatischen Prozesses“ zur Lösung regionaler Konflikte notwendig. Damit spielte Gorbatschow auf den noch immer strittigen Kambodscha-Konflikt an. Einen Abbau der Spannungen erfordere auch die Wiedervereinigung Koreas. Jedes Argument für den Verbleib der 43.000 amerikanischen Soldaten in Südkorea habe seit langem seine Berechtigung verloren, unterstützte Gorbatschow die Friedensinitiative des kommunistischen Nordkoreas.

Heute wird Gorbatschow in Shanghai erwartet. Die chinesischen Gastgeber dürften nicht nur die auch in der Hafenstadt zu erwartenden Proteste aus der Ruhe bringen. Drei US-amerikanische Kriegsschiffe, die heute dort einlaufen sollten, haben hier für diplomatisches Unbehagen gesorgt. Das Hafenspektakel war darauf angelegt, dem Mann aus Moskau zu signalisieren, daß China auf die Verbesserung der Beziehungen nicht angewiesen ist und zu den USA mehr als nur gute Handelsbeziehungen pflegt. Gorbatschow schreckt das offenbar wenig. In der Pekinger Großen Halle des Volkes wich er von seinem Redetext ab und holte zu einer diplomatischen Großoffensive aus. Nicht nur die Beziehungen zwischen Moskau und Washington böten gute Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum, auch die zwischen der Sowjetunion und Japan will er jetzt mit Leben füllen.

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