Tintenkleckse zum 1. Mai

 ■ D O K U M E N T A T I O N

Die „Ereignisse des restlichen Tages“ - gemeint ist die Randale rund um den Lausitzer Platz - wäre „wie die Demo ein Ausdruck dafür, wieviele es gibt, die in diesem Staat keine Perspektive mehr sehen und die wahrscheinlich auch wissen, daß sie von AL und SPD nichts anderes zu erwarten haben, als eingeseift und verarscht zu werden“. Ein spontaner gewalttätiger Aufstand, urteilte das „Vorbereitungsplenum der Revolutionären 1. Mai-Demonstration“ in mehreren Beiträgen zur internen autonomen Debatte über die Kiez -Randale. Wer jetzt das Geschrei über die „blinde Gewalt“ anstimme, der drücke damit nur sein „Nichtbegreifen“ über die Lage der Menschen und seine „Bezugslosigkeit zur Situation der unterdrückten Klasse hier aus“. Der Kernsatz der stromlinienförmigen Vulgär-Marxismen: „Es ist sinnlos, sich von einem gesellschaftlichen Zustand zu distanzieren, es kommt darauf an, ihn zu verändern.„

Die Thesen des Vorbereitungsplenums sind in der Berliner Autonomen-Szene allerdings reichlich umstritten. Aus der Vielzahl der autonomen Debattenbeiträge nachstehend die Stellungnahme des Ermittlungsausschusses, einer Beinahe -Institution in Berlin.

Diese Kritik bezieht sich auf das Interview in Radio 100 (auszugsweise abgedruckt in der taz) und die Stellungnahme des Vorbereitungsplenums der Revolutionären 1. Mai -Demonstration. Vorweg erst mal was zur Form Eurer Aussage:

1. Die - teilweise massive - Kritik, auch aus autonomen Kreisen, schlichtweg mit der angeblichen Beinflussung und Verunsicherung durch SPD/AL und ihre Medien wegzuwischen, zeugt von einer nicht unerheblichen Arroganz.

2. Eure mehrfachen Bemerkungen über „Buch-Autonome“ und „tintenklecksende Akademiker“ stammen in ihrer Intellektuellenfeindlichkeit aus allerdumpfester deutscher Tradition. Sie haben in linken Texten nichts zu suchen. Ihr macht solidarische Kritik unmöglich, wenn Ihr von vornherein Andersdenkenden den Befall mit dem reformistischen Bazillus unterstellt.

Trotzdem ein Versuch:

Unserer Ansicht nach ist Euer Grundfehler eine romantische Verklärung der sogenannten Klasse. In diesem verklärten Lichte erscheinen militante Aktionen als grundsätzlich erst einmal positiv. Es geht dann nur noch um „taktische Fehler“ und „Randerscheinungen“ im einzelnen, die zu korrigieren. „Riots“ wie der 1. Mai drücken die Wut, den Frust und die Gewalt vieler aus. Eurem Text ist die Faszination ob dieses Ausbruches anzumerken. Gegen wen sich diese Gewalt richtet, ist noch beliebig. Ob große oder kleine Autos, Tankstellen oder U-Bahnen, Bullen oder Frauen (Zur Erinnerung, auch die Militanz von Neonazis oder Fußballrowdys rührt aus derselben Unterdrückung). Entscheidend ist die Richtung , die die Wut nimmt, gegen wen sich der Kampf richtet. Sonst wird - und da neigt ihr zu - Gewalt per se zur revolutionären Tat verklärt.

Ihr werft Autonomen, welche die Plünderer kleiner Läden als Arschlöcher bezeichnen, die Bezugslosigkeit und das Nichtbegreifen der Klasse vor. Wir denken, gerade der Bezug zur Klasse verpflichtet zur - auch scharfen - Kritik. Wenn die „unterdrückte Klasse aus ihrer Subjektivität heraus“ faschistoide oder sexistische Übergriffe begeht, sind uns derartige Skrupel unbekannt. Verändern lassen sich gesellschaftliche Zustände nur durch die Menschen, die unter ihnen leiden. Oft müssen sich diese Menschen selbst ändern, um ihre Situation zu ändern. Euer Liberalismus gegenüber den Ausdrucksformen der Klasse hilft da nichts.

Ihr schreibt selber auch von der Verantwortung, positive Sachen aufzugreifen, negativen entgegenzuwirken. Allein, uns kommen diese Sätze vor wie kleine Inseln im Meer, immer in Gefahr, weggespült zu werden vom Faszinismus (von der Faszination is‘ wohl gemeint, d.Korr.in) der Revolte. Jetzt mal zu einigen Einzelheiten:

Es ist und bleibt verantwortungslos, direkt neben dem Lause -Fest die Auseinandersetzung mit den Bullen zu suchen. Gerade weil wir wissen, sie haben sich nicht geändert, wir wissen, wie sie vorgehen, da wurden Tausende als Rückzugsgebiet funktionalisiert. Kein Wunder, daß sie dann stinksauer sind. „Unsere Vorstellung ist nicht ein 1. Mai -Fest nach sozialdemokratischem Befriedungsmuster, sondern: BULLEN RAUS, WENN WIR FEIERN!“ Wir können diese Sätze nur so verstehen, als würden da die „Kämpfer“ zu den wahren Kreuzbergern erklärt, die dem gesamten sozialdemokratisch eingelullten Rest der Bevölkerung vorschreiben wollen, wann sie zu feiern haben. Das ist nicht nur anmaßend, das ist elitär.

Wir waren in unseren Diskussionen schon mal so weit, daß schwarze Jacken und Militanz alleine nicht den revolutionären Wert ausmachen. Im Umgang mit dem Fest und im Straßenkampf war nur Platz für unsere jungdynamischen Helden vorgesehen. Die Kinder, die Alten, die nicht so Fitten, sozialdemokratisch eingelullt oder Staffage.

Kein Wunder also, daß dieser 1. Mai streckenweise zu einem „Männersportabend“ wurde. Immer wieder breitbeinige Gruppen, die Bierbüchse in der Hand, Sprüche machend; Helden, nach siegreicher Schlacht in die U-Bahnsitze fallend: „So, und jetzt noch 'ne Frau.“ Es war nicht nur so, es war aber auch so. Der alltägliche Sexismus, nur etwas offener.

Dazu bleiben in Erinnerung Steine auf die U-Bahn, wahlloses Abfackeln, der hirnverbrannte Versuch, eine Tankstelle in die Luft zu jagen, ein Bulle, der fast gelyncht worden wäre.

Revolutionäre Aktionen lassen sich in ihrer Ziel- und Zweckgerichtetheit sowie ihrer klaren Vermittelbarkeit erkennen. Diesen 1. Mai hat nicht nur das Kerngehäuse nicht verstanden. Ihr mögt die Kritik als staatsloyale Hetze abtun, uns scheint, dieser 1. Mai war ein großes Geschenk an die AL. Zeigt er doch, es gibt bei den Autonomen derzeit keine Alternative zur Koalition.Ermittlungsausschuß -Gruppe

August Thalheimer/Heinrich Brandle