Historische Chance

■ Nach vierzig Jahren der Herrschaft der Parteikader steht die VR China am Scheideweg

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Ähnlich wie der Aufstand der chinesischen Studenten vom Mai 1919 wird auch der Pekinger Mai 1989 als ein großes Ereignis in die Geschichte eingehen. Doch was dieser Tage in chinesischen Städten von Peking bis Kanton passiert, wird nicht mehr nur in den Annalen des Landes der Mitte haften bleiben. Der Aufstand der chinesischen Studenten, Arbeiter, Bauern, Hausfrauen, Soldaten und Kader sowie der Gipfel zwischen Gorbatschow und Deng markiert auf lange Sicht eine bedeutende Veränderung der Zentren der Welt.

Die Arbeit für die chinesische Regierung beginnt erst mit dem Heimflug des russischen Erneuerers. Böse Zungen behaupten, die chinesische KP sei auf einem Tiefpunkt angelangt und heute genauso unbeliebt wie die Kuomintang (KMT) - die Partei von Tschiang Kai-shek - im Jahre 1949 kurz vor Ende des chinesischen Bürgerkriegs. Richtig ist daran zweifellos, daß die KPCh nur noch durch eine radikale Kehrtwende ihrer Politik die innenpolitische Krise meistern kann. Vorausgesetzt, sie entscheidet sich nicht für eine militärische Lösung, wie sie der greise Deng Xiaoping favorisiert. Denn das würde nur einen kurzfristigen Pyrrhussieg bringen und zeigt die morbide Verfassung und die Halsstarrigkeit, mit der die alte Garde in China zwar wirtschaftliche Reformen verwirklichte, doch gleichsam jede politische Veränderung blockiert.

Wenn China eine Zukunft haben will, dann muß jetzt nicht nur Deng Xiaoping, sondern die gesamte alte Garde vom Langen Marsch sowie ihre jüngeren Vertrauten, die eigentlichen Bremser einer politischen Reform, endgültig von der Macht verbannt werden. Zwar haben diese alten Herren oft keine politische Funktion mehr, aber basierend auf einem konfuzianischen Senioritätsgehorsam und revolutionärem Anspruchsdenken ziehen sie immer noch die Fäden der Politik. Und das, obwohl sie teilweise die Zusammenhänge eines ökonomisch und politisch immer komplexeren Gemeinwesens schon lange nicht mehr durchschauen.

Wie in Ungarn oder Polen muß auch in China die Allmacht der KP ein Ende haben. Daß sie die einzige Kraft ist, die das Land führen kann, ist zweifelhaft. Zumindest mit den jetzigen Kadern. Sie verstehen ihr Amt in erster Linie darin, sich in Stadt und Land wie die Feudalfürsten aufzuspielen und rücksichtslos für sich und ihre Clans die Tasche zu füllen. Vor Bestrafung müssen die Wirtschaftsverbrecher im politischen Amt selten Angst haben, das schlimmste was ihnen droht, ist ein zeitlich begrenzter Ausschluß aus der KP. Müßte sich die KPCh nur einmal einer öffentlichen Wahl wie in der UdSSR stellen - etwa gegen eine Partei von jungen Intellektuellen, die lange für teures Geld im Ausland studiert haben und nur darauf brennen, ihr Land zu verändern -, wäre sie schnell die Probleme der Ineffizienz und Korruption bei Politikern und Kadern los. Wer in der VR China bisher jedoch die Allmacht der KP in Frage stellte, für seine Rechte auf die Straße ging, sagte oder schrieb, was die Wahrheit ist, wanderte in Verliese und Arbeitslager, wurde niedergeknüppelt oder gar erschossen. Der Journalist Wei Jingsheng, demonstrierende Tibeter und tausende namenlose politische Gefangene geben Zeugnis davon.

Die Studenten betonen, daß sie kein Ende der Herrschaft der KPCh wollen, sondern „Freiheit und Demokratie“. Nach den vier Modernisierungen jetzt auch die fünfte: umfassende Demokratisierung. Das heißt echte Wahlen für die Parlamente, Pressefreiheit, ein Rechtssystem, bei dem jeder Bürger gleich ist, und Garantie für Menschenrechte. Gelänge es jetzt endlich den Intellektuellen, ihre wohlverdiente Rolle im Staat zu sichern, würde dies auch der KP zugute kommen. Denn auch ökonomisch unpopuläre Maßnahmen wie die vorerst eingefrorene Lohn- und Preisreform hätten in einem nationalen Geist des Aufbruchs wieder eine Chance, wenn auch murrend, geschluckt zu werden. Eine Alternative dazu gibt es ohnehin nicht, wenn nicht die Wirtschaftsreform auch noch scheitern soll.

Ähnlich verhält es sich auch mit den Problemfeldern Taiwan und Tibet. Mit der stets gleichen Formel, daß nicht an eine Spaltung des chinesischen Vaterlandes zu denken sei, hat Deng Xiaoping auch hier die Zeichen der Zeit überhört und stets die militärische Lösung als letzte Lösung propagiert. Dabei hat nicht nur der Dalai Lama längst angeboten, mit der chinesischen Führung den Konflikt auf dem Dach der Welt friedlich zu lösen. Sogar die Regierung in Taiwan betont seit wenigen Wochen, daß eine Wiedervereinigung unter dem Motto „Ein Land - Zwei Regierungen“ möglich sei. Auch hier gilt es wie bei den Studentenunruhen, ehrliche Politik zu machen und nicht mehr zu dem unaufrichtigen Taktieren und der bloßen Rhetorik der Vergangenheit zurückzukehren.

Die VR China steht am Scheideweg. 40 Jahre Herrschaft der Generation der KP-Kader vom Langen Marsch und aus den Anfangsphasen des sozialistischen Chinas haben es nicht geschafft, die riesigen Ressourcen des Landes und die Begabungen seiner Bewohner ausreichend zu nutzen und anzuspornen. Die Ereignisse vom Mai 1989 sollten ein Anreiz sein, dies erneut zu versuchen.

Jürgen Kremb