„Oli war einer von uns“

Sommer 1982. Auf dem Spritzenplatz in Hamburg-Altona tobt monatelang eine Auseinandersetzung zwischen Punks und Polizei. Unter den Jugendlichen, die sich gegen die Vertreibung aus dem Viertel wehren, ist auch Oli Perverso, wie er sich selbst und wie ihn alle anderen nennen. Mit Unterstützung der Grünen und anderer Engagierter wird eine Broschüre über die Konflikte erstellt. Oli steuert einen Artikel über eine kurzfristige Festnahme bei. Er schreibt: „Du wirst also aus dem Bullenwagen gezerrt, an den Haaren oder am Ohrring... Da wird 'm Typ der Arm gebrochen, einer wurde gezwungen, auf dem Bauch liegend Schwimmbewegungen zu machen, dabei immer zu sagen, ich bin ein Punkerschwein. Wieder ein anderer sollte da Scheiße fressen usw.“ Der Vergleich zu den Szenen, die sich zwei Jahre später in der Hafenstraße abspielen sollten, drängt sich auf, auch wenn das, was Annette J. angetan wurde, weitaus brutaler war.

Sommer 1984. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht von der zwölfstündigen Folterung. Die Täter sind keine anonymen Figuren, „Oli war einer von uns“, heißt es in der Szene. Manch einer fragt sich, ob man damit hätte rechnen müssen. Dem Schock folgt die Hilflosigkeit. Bis heute. Viele sind froh, daß Oliver K. entkommen ist. Sie wollen ihn weder der Selbstjustiz aus den eigenen Reihen noch der staatlichen Gerichtsbarkeit ausgeliefert sehen.

18. Mai 1989. In einer Zelle sitzt mir Oliver K. gegenüber, aufgeregt und nervös, denn in vier Stunden wird das Urteil gefällt. Er weiß, daß er ein paar Jahre hinter Gittern verbringen wird. Die Staatsanwaltschaft hat sechs Jahre und die Nebenklagevertreterin sieben gefordert, gerecht findet er das nicht: „Ich glaube, das hilft mir auch nicht weiter. Die letzten Monate Untersuchungshaft, das macht krank im Kopf. Sieben Jahre, ich glaub‘ nicht, daß ich das durchhalte.“ Er sei sicher, sagt Oliver K., daß etwas Ähnliches nicht wieder passieren könne. Warum? „Weil es dazu bestimmter Umstände bedarf.“ Was er damit meint? „Meine innere Situation und die von Susi und Birgit. Wie waren fertig, endpunktmäßig.“

Die Aussagen der beiden Frauen, seiner Mittäterinnen, findet er „ätzend“: „Es waren drei Beteiligte, nicht einer. Aber ich habe das gefühl, daß es an mir hängen bleibt.“ Seine Exfreundin Susanne, inzwischen Mutter, für ihn die treibende Kraft in jener Folternacht, habe sich brieflich dafür entschuldigt, daß sie sich vor Gericht vor einer klaren Aussage drückte. Es täte ihr leid, sie habe das für ihr Kind getan. Er zuckt die Schultern: „Ich kann verstehen wenn sie Muffe haben, aber ich find‘ es Scheiße, wenn sie mich dafür brummen lassen.“

Und er selbst? Wie und wo hat er sich mit der Tat auseinandergesetzt? Seine Antworten kommen stockend, wie schon auf der Anklagebank geht er nicht auf das Geschehene ein. „Es tut mir total leid, auch die Spätfolgen, das ist echt schlimm“, kommt auf die Frage, was er heute Annette gegenüber empfindet. Ich glaube es ihm. Aber ist das schon Auseinandersetzung, Aufarbeitung? Es ist einfach, sich hinter der Wirkung von Alkohol und Tabletten, die sicherlich eine Rolle spielten, zu verstecken. An Therapie habe er schon gedacht, „um das, warum ich mir einen ansaufe, mal anzugehen“. Er fühle sich unsicher und wisse nicht, ob das im Vollzug sinnvoll sei. Auf die Idee, eine Therapie auf sein Sexualleben zu beziehen, kommt er nicht. Das schiebt er weg: „Das klingt doch, als hätte ich 'ne Macke weg.“

Und wenn, dann gelte das auch für andere. Sicher, es sei „ein extra derbes Ding“, was er sich geleistet habe, nicht vergleichbar, aber es solle doch niemand so tun, als sei das „weit weg“. Er meint das Verhör in der Hafenstraße: „Was sie mit uns gemacht haben, kam mir vor wie eine Fortsetzung, 50 Leute und keiner rafft's.“

Bisher habe niemand aus Hamburg Kontakt zu ihm aufgenommen, aber Freunde aus Süddeutschland, seiner neuen Heimat, haben ihn besucht. Wußten sie, was 1984 in Hamburg passierte? Ja, sagt Oli, „irgendwann hätte man mich sowieso gepackt, und ich wollte nicht, daß sie denken, ich hätte mich eingeschlichen.“

Er besteht darauf, daß er sich mit seiner Tat auseinandergesetzt habe, nur „die Paranoia“, die habe er verdrängt. Aber eine Antwort auf die Frage, was Aufarbeitung bedeute, findet er nicht. Später vielleicht? Wie soll es weitergehen? „Wenn ich mal 'nen guten Tag hab‘, möchte ich den Schulabschluß nachholen und was mit Graphik machen. Aber es kommt darauf an, was ich kriege.“

Nun weiß er es. Sein Kommentar zur Perspektive im Knast: „Das ist doch kein Leben, das ist Beerdigung.“

Ute Jurkovies