„Hier, wo sie den Kanaken erstochen haben“

Im Märkischen Viertel Berlins sucht man nach Gründen für den Tod des jungen Türken Ufuk Sahin / In der Trabantenstadt mit hohem Republikaneranteil ist Ausländerfeindlichkeit kein Thema, aber an jeder Ecke konkret greifbar  ■  Aus Berlin Vera Gaserow

„Sauberkeit - Na klar!“ beschwören die Papierkörbe im Märkischen Viertel, Berlins fast schon historischer Trabantenstadt. Schon vor Jahren galt diese in Beton gegossene riesige Menschenansiedlung bei Städteplanern und Soziologen als Inbegriff „sämtlicher möglicher zu begehender städtebaulicher Fehler“ und wer heute hier durch die Straßen geht, schnappt innerhalb weniger Minuten Wortfetzen sozialen Sprengstoffs auf: daß „der Mann von der Sonja sie wieder grün und blau geschlagen hat“, „ick dir meene Jacke schenke, wenn du mir drei Mark fürn Bier leihst“ und „meene Mudder mich dod schlägt, wenn se das erfährt“. Aber vielleicht gerade weil es hinter den Wohnungstüren und Raff-Gardinen brodelt, ist Ordnung und Sauberkeit - „Na klar!„- auf den Straßen umso dringlicher.

Seit dem Wochenende jedoch ist diese mühsam gewahrte Ordnung an einer Stelle durcheinander geraten: Auf dem Fußweg zum Haus Wilhelmsruher Damm 224, etwas abseits vom Hauptverkehrsstrom, liegen seit ein paar Tagen Blumensträuße auf der Straße, zum Schutz vor Fußtritten durch rot-weißes Flatterband eingegrenzt. Die Blumen liegen hier für Ufuk Sahin, den vierundzwangzigjährigen Türken, der genau an dieser Stelle, wenige Schritte von seiner Haustür entfernt, auf offener Straße erstochen wurde. Weil er sich über „all diese Kanaken“ geärgert hatte, hatte der 29jährige Andreas Sch. aus dem Nachbarblock den jungen Türken nach einem kurzen Wortwechsel umgebracht. (s. Taz vom 17.5.)

Für Ufuk Sahins gewaltsamen Tod finden die Bewohner des Märkischen Viertels viele Gründe: „Mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig gefahren ist er, und da hat's Streit gegeben“, „die Freundin wollte er dem anderen wegnehmen“, „besoffen waren beide und haben sich dann in die Haare gekriegt“. Der wirkliche Grund wird hier im zubetonierten Norden Berlins beharrlich verdrängt: Ufuk Sahin starb allein deswegen, weil er Ausländer war.

Im Vergleich zu anderen Stadtteilen leben nicht sehr viele Ausländer hier. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, liegt der Stimmanteil der „Republikaner“ im Märkischen Viertel weit über dem Durchschnitt der anderen Bezirke und eine Ortsgruppe der in Berlin offiziell verbotenen NPD ist gerade hier überaus aktiv. In regelmäßigen Abständen auch lassen die großen Wohnungsbaugesellschaften die Hauswände mit den „Ausländer-raus-Parolen“ übermalen, die sich von den anderen schrillen Graffities abheben. „Sprüche sollen sie meinetwegen sprühen, daran haben wir uns gewöhnt“, sagt der 20jährige Bruder des getöteten Ufuk Sahins leise vor sich, „aber umbringen, sie können uns doch nicht umbringen! In Kreuzberg wäre das nicht passiert. Da hätten sie sich nicht getraut, da funktioniert die soziale Kontrolle einfach besser.“

Vielleicht weil es diese soziale Kontrolle nicht gibt, weiß man hier wenig Über Andreas Sch., der Ufuk Sahin mit einem einzigen Messerstich tödlich verletzt hat. Wer kennt sich schon noch in diesen Häuserkolossen? Und die Nachbarn im ersten Stock in der Finsterwalder Straße, die Tür an Tür mit Andreas Sch. gewohnt haben, meinen, „daß es nun reicht“ und sind nicht mehr zu sprechen. Andere verstummen schnell, als die Verlobte des nun in U-Haft sitzenden Andreas Sch. den Fahrstuhl betritt. Eine Mitmieterin murmelt noch ein ratloses „Ich begreife das nicht. Warum nur?“ vor sich hin. Ufuks Bruder beantwortet diese Frage nach dem Warum aus eigener Erfahrung: „Eigentlich kommen wir mit den Deutschen ganz gut aus. Es gibt nur eine Familie hier im Haus, die grüßt uns nicht - wir sagen dann eben auch nicht guten Tag. Aber dennoch: ganz tief drin hassen die Deutschen die Türken und überhaupt alle Ausländer. Sie hassen sie einfach.“

Wie zum Beleg tönt einige Meter weiter Volkes Stimme aus einem Bauarbeitermund: „Wat, nen Türken haben se hier abgestochen? Na ein Glück, einer weniger!“ und sein schwitzender Kollege mit der Schippe nickt Applaus dazu. Nur der Straßenlärm schützt die ausländischen Kollegen der beiden vor diesen Sätzen. „Mit denen arbeiten wir ja sowieso nur notgedrungen zusammen, weil die anderen die Arbeit nicht mehr machen wollen. Die Türken haben bloß eins im Kopf: schnell reich werden. Ständig stehn se in Haufen zusammen, quatschen über die Türkei, spannen uns die Frauen aus! Is doch immer so!“ Daß die Ausländer sich „viel zu viel rausnehmen!“ meint auch die ältere Dame im Einkaufszentrum und will überhaupt nichts mehr sagen, als sie erfährt, daß die Fragerin aus Kreuzberg angereist ist: „Dann kenn ich Ihre Einstellung sowieso!“

An dem Blumengebinde am Wilhelmsruher Damm 224 ist währenddessen ein älterer Mann vorbeigegangen und hat Ufuks Bruder arglos gefragt, ob denn diese Blumen „für den Kanaken sind, den sie abgestochen haben“.

Gut, es gibt auch die anderen im Märkischen Viertel, die bereitwillig und betroffen die Flugblätter entgegennehmen, mit denen die bezirkliche Antifa-Gruppe im Einkaufszentrum an den Tod Ufuk Sahins erinnert. Und auf dem Pflaster am Wilhelmsruher Damm liegen auch etliche Blumensträuße mit den Namen deutscher Absender. „Jetzt sind sie alle sehr freundlich zu uns“, meint Ufuks Bruder, „aber ich habe trotzdem keine Lust mehr, was mit Deutschen zusammen zu machen. Irgendwie haben die Deutschen kein Herz. Sie sind so kalt, da innen drin. Ich habe auch jetzt keine Angst um mich. Aber ich habe Angst, daß meine Familie daran zerbricht. Am liebsten,“ sagt Ufuks Bruder im besten Berlinerisch „möchte ich so bald wie möglich in die Türkei zurück“.