EINMAL PRINZ UND ZURÜCK

■ Cechovs „Platonov“ vom Thalia-Theater und Kleists „Käthchen von Heilbronn“ vom Theater Basel theatertrüffeln sich

Das Käthchen rennt einem wildfremden Ritter nach, nur weil sie meint, ihn im Traum gesehen zu haben, schmeißt sich ihm bei jeder Gelegenheit zu Füßen, betet ihn an: „Mein hoher Herr“. Der Graf vom Strahl steht stocksteif wie ein Computerfachmann, schreit, befiehlt, stößt sie zurück, und jammert sich nachher unterm Baum die Mütze voll. Es hilft nichts, auch wenn der Graf es nicht wissen will. „Der aberwitzige Träumer, unbekannt mit dem gemeinen Zauber der Natur!“, sagt der Vorsitzende des Femegerichts, vor das Käthchens Vater den Grafen geklagt hat, und spricht ihn frei. Der gemeine Zauber ist jedoch bei Kleist als Vorbestimmung verklärt, zur Erfüllung dieses Zaubers muß die Tochter des Waffenschmieds zum kaiserlichen Fehltritt werden - gute Menschen sind nicht nur schön, sondern auch hoher Abstammung - und die Rivalin Kunigunde sich als Horrorweib mit falschen Zähnen und Brüsten entpuppen. Welch böser Betrug, welch Sitte und Sexus verletzende schlechte Ware. Ein Märchen, wie in allen Märchen gehorchen Logik und Moral dem Wunsch, und der ist so echt und irrational wie der Mangel, aus dem er entsteht.

Die unechte Frau will nur Geld und Stellung, bei Cechov hat sie beides, nd kann doch nicht leben. Die intellektuelle Generalin (Elisabeth Schwarz) langweilt sich regelmäßig zu Tode auf ihrem Gut, fühlt sich mitten in Gesellschaft einsam und wirft sich einem Sonderling an den Hals. Platonov (Hans Christian Rudolph) spottet, fällt aus der feinen Rolle, spielt Theater mit dummen, herzensguten Mädchen: „Ich liebe dich - du dumme Pute“, weiß alles besser und zu gut, um mit dem Einfachen, dem Erreichbaren zufrieden zu sein. Aber als er, der abgestiegene Adlige, ein Dorfschullehrer, brav verheiratet, zum Erfüllungshengst für alle Mädchensehnsüchte werden soll, flippt er aus. Die Rolle des Hamlet ist zu groß: „Gehen oder nicht gehen?“ kommt nicht ohne sarkastische Belustigung über seine Lippen, nicht einmal selber erschießen - wie Kleist es geschafft hat - bringt er fertig, wer sich immerzu selber über die Schultern schaut, kann nicht über sich hinaus.

Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich... Bei Cesare Lievi hängt der kleistsche Himmel voller Geigen beziehungsweise das Bühnenbild. Der helvetische Reisekoffer platzt aus allen Nähten, von Wilhelm Tell bis Johanna Spyri ritterrüstelt, laubraschelt und bergbächelt es vor sich hin, untermalt mit Orangenträumen und Vier Jahreszeiten. Da baut das rotbackige Heidi -Käthchen (Inka Friedrich) im Mondscheinwerfer ihr einfaches Lager, und schwelgende Zuckerklänge dräuen aus den Lautsprechern. Der Computerfachmann vom Strahl (Stephan Bissmeier) tappt herein, legt die Blechrüstung ab, und erkennt sich in der Meister-Proper-Bühne als narzißtischer Prinz. Kinderchen mit Flügelchen bauen auf und ab, große Pferdelaubschnittarbeiten schauen von links und rechts auf die Bühne. Bei Neuenfels waren sie vergoldet, da verkleisterte jeder Gaul noch tiefere Wahrheiten. Hier, Gott -seidank, geht's nur darum, ob sie sich kriegen, und vorher haut uns Schalk Lievi die Romantik so penetrant um die Ohren, daß sie wie guter, edler Schwarzwaldhonig wieder raustropft aus dem Herzkämmerchen.

Nur denen, die alles besser wissen, den Platonovs, den Kritikern, hat's wieder nicht gefallen, aber sie werden's nicht drucken. „Letztes Jahr war die Schweiz auch nicht dabei... Daß sie da waren, mußt du schon schreiben...“

Dafür haben sie sich bei Jürgen Flimm wiedererkennen können. Da wird mit Größe gelitten und gestorben, aber selbst hier fühlt es sich nicht mehr eindeutig. Platonov spricht, an der Rampe flanierend, immer neben sich, ein guter Schauspieler, der einen schlechten spielt, der weiß, daß er schlecht ist, aber immer noch Erfolg hat. (Obwohl er diese Rolle so herzerfrischend schlecht spielt, aber er entkommt seinem Erfolg nicht: das Elend aller Zyniker, ernst genommen zu werden.) Er spricht aus Langeweile von Liebe, vielleicht weil er nicht weiß, was Liebe ist, geschweige denn, was Leben. Aber leben will er nicht, bis er durch Eheleid, Eifersucht, Selbstmord und Wahnsinn wenigstens zum Sterben gezwungen wird. Ein schöner Bürgertod durch die abgelegte Geliebte Soffie im Schlafanzug, er mit dem Bettuch vor dem Bauch errötend... Cechovs frühes, zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichtes Stück, bei Flimm eine soziale Studie über die russische Gesellschaft, den Verfall des Adels, zum ausgehenden 19.Jahrhundert, bei Flimm ein Intellektuellendrama, mehr noch eines der intellektuellen Frau: sie wird verehrt, aber nicht begehrt. Welch ein Klischee, das sie gleichermaßen erleidet und bestätigt. Denn die Leerstelle „Glück“ bleibt unbesetzt, das Stück ist mit Platonovs Tod zu Ende, und am Schluß sprechen alle noch schnell die großen Worte, die vorher nicht mehr zeitgemäß schienen. Das Leben, auch nur ein Klischee. Feuerwerke, donnernde Lokomotiven, geistige Getränke, das Glück der kleinen Leute, im Theater macht das Verdrängte besoffen wie eine spannende Schnulze.

Der Honig tropft, aber es ist nur Kunsthonig, harzgesund ist der große Laubbaum aus Basel, der Prinz könnte drunter sterben, tut er aber nicht, weil er noch einiges vor hat. Das Theater in Basel illustriert, ohne weh zu tun, inszeniert nicht den Traum, sondern buttert ihn mit opulenten Bühnenbildern zu. Die Ritter lachen zuviel beim Fechten, weil sie ihrem Kitsch doch nicht ganz trauen, und der wunderbare Mallorca-Himmel voller Sterne und Cherub leuchtet Käthchens Unschuld aus und wird banal. Traurig, diese Banalität hat nicht einmal Tragik, nur Stil.

Dorothee Hackenberg