Machen die Chinesen eine Revolution?

■ Die Machthaber wollen Repression, können sich aber auf die Armee nicht mehr verlassen

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Ist das schon der klassische Verlauf einer Revolution, der jetzt in China zu beobachten ist? Sind wir Zeitzeugen einer neuen, großen Umwälzung im volkreichsten Land der Erde? Vieles spricht dafür. Blitzschnell hat sich die Revolte, begonnen von einer Gruppe von Studenten, erst in der Hauptstadt, dann im ganzen Land ausgebreitet. Ihre Forderungen sind Funken, die einen Flächenbrand auslösten, weil sie den Nerv der chinesischen Gesellschaft getroffen haben. Sie haben die Widersprüchlichkeit eines Reformprozesses bloßgelegt, der zwar ökonomische Veränderungen bewirkt hat, vor politischen Öffnungen aber stehengeblieben ist. Die Studenten haben öffentlich gemacht, was jeder Mensch in China selbst erfahren kann: die wegen der fehlenden demokratischen Kontrollmechanismen herrschende Despotie und wuchernde Korruption der gesamtstaatlichen und regionalen politischen Entscheidungsträger. Die Vehemenz des Protestes der letzten Tage läßt jedenfalls darauf schließen, daß kaum jemand in China mehr an deren „Ehrenhaftigkeit“ glaubt. Die Führungen der Partei und des Staats haben ihren Einfluß auf die „Massen“ verloren. Von ihnen wird, vor allem nachdem Parteichef Zhao Ziyang ausgebootet wurde, kein weitergehender Impuls für die Zukunft mehr erwartet.

Was den führenden Genossen um Deng Xiaoping geblieben ist, ist die Drohung mit der Repression und die Zensur. Ganz im Stile anderer Herrschaftscliquen in revolutionären Perioden hat die chinesische Führung den Konflikt damit jedoch nur angheizt und auf die Spitze getrieben. Verblendet von der über 40jährigen „stabilen Macht“, deren Krisen bisher aus dem Kampf „zweier“ oder mehrerer „Linien“ innerhalb des eigenen Herrschaftsapparats herrührten - so während der Zeit des „Großen Sprungs nach vorn“ oder der „Kulturrevoltion“, zuletzt bei der „Entmaoisierung“ -, bei denen die „Massen“ jeweils nur als Statisten im internen Machtkampf auftraten, hat die Führung die Dynamik der eigenständigen Aktion der Studenten und eines großen Teils der Bevölkerung unterschätzt. Sie hat sich selbst mit der Androhung von Gewaltanwendung in eine große Gefahr manövriert: Ihr wichtigstes Herrschaftsinstrument, die Armee, hat ihre „Aufgabe“ bisher nicht erfüllt. Wenn sich Soldaten mit den „Massen“ verbinden und es ernst nehmen, eine „Volksarmee“ zu sein, wenn die Armeeführung zu zögern beginnt und sich nicht mehr vor den Karren einer vielleicht verlorenen Sache spannen lassen will, dann ist die Morbidität der Herrschaft für alle offensichtlich geworden. Dann ist die Stunde herangereift, die auf eine Entscheidung drängt.

Noch ist ungewiß, auf welche Seite die bewaffnete Macht sich wirklich schlägt. Noch könnte die Parteiführung Trümpfe in der Hand haben. Wenn jedoch jetzt offiziellerseits darauf hingewiesen wird, die Armee in Peking sei nicht zur „Unterdrückung des Protestes“ eingesetzt, könnte dies darauf deuten, daß sie tsatsächlich als Repressionsinstrument unbrauchbar geworden wäre. Und da mit der Entmachtung Zhao Ziyangs, der gerade deswegen zum Volkshelden aufgestiegen ist, auch die Partei gespalten ist, wird nun alles darauf ankommen, was in der Nacht zum Montag geschehen wird. Vielleicht wird es ja doch was mit einer neuen, großen, demokratischen Revolution in China.

Erich Rathfelder