Bei Dao, chinesischer Lyriker Der Geist aus der Flasche

DAS MONTAGSINTERVIEW von Sabine Peschel

Seit Mittwoch letzter Woche hält sich der chinesische Lyriker Bei Dao auf Einladung des DAAD für drei Monate in Berlin auf. Seitdem er sich im Februar dieses Jahres mit seinem von 30 weiteren Intellektuellen mitgetragenen Aufruf offen für die Freilassung des politischen Gefangenen Wei Jingsheng einsetzte, gilt er im Ausland als einer der führenden kritischen Oppositionellen.

Die Realität ist schneller als die Sprache: Unser Interviewtermin wird von den aktuellen Ereignissen in China eingeholt. Als ich Bei Dao am Freitag abend besuche, zeigt der amerikanische TV-Nachrichtensender CNN, der zu diesem Zeitpunkt noch live aus Peking berichten kann, die Bilder, die viele befürchtet, wenige aber so wirklich für möglich gehalten haben. Die beginnende militärische Unterdrückung der oppositionellen Bewegung in Peking und anderen chinesischen Großstädten, die Ungewißheit, ob und wie sich der Ausnahmezustand verfestigen wird, erzeugen eine nervöse Spannung, die unserem Gespräch kaum Atem läßt.

taz: Gorbatschow geht, die Armee kommt. Was bedeutet sein Besuch für die demokratische Bewegung in China?

Bei Dao: Gorbatschows Besuch war für die Studenten eine ungeheure Ermunterung, auch wenn Glasnost und Perestroika als Leitbegriffe in China keine solch zentrale Rolle spielen, wie sie von außen projiziert wird. Vor seinem Besuch konnte die chinesische Regierung die Demonstrationen kaum unterdrücken lassen, man mußte seine Abreise abwarten. Daß es geschehen könnte, darauf deutete schon Deng Xiaopings frühere Äußerung hin, man solle sich um das Urteil und den Einfluß des Auslands nicht scheren.

Wie schätzt du in diesen Stunden, in denen in Peking das Militär einrückt, die Lage ein?

Die Situation erinnert mich an die auf den Philippinen vor der Revolution. Die Unterdrückung unserer Bewegung wird nur kurzfristig möglich sein, denn die Solidarisierung verschiedener Gesellschaftsgruppen ist ohne Vorbild. Mag es ganz zu Anfang noch zwei relativ wenig gemeinsam agierende, den Reihen der Intellektuellen und der Studenten entwachsene oppositionelle Kräfte gegeben haben, so existiert mittlerweile eine einzige, quer durch die chinesische Gesellschaft verlaufende Bewegung. Zwei Millionen Menschen haben in sich in Peking an den Demonstrationen beteiligt: Studenten, Arbeiter, Intellektuelle, auch Journalisten, Bauern und sogar Kader der Kommunistischen Partei. Die herkömmliche Methode, zur Bekämpfung einer unliebsamen Strömung die Gesellschaft in sich zu spalten und die eine Gruppe gegen die andere auszuspielen, funktioniert nicht mehr. So kann sich die Regierung als letzten Ausweg nur auf die Truppen verlassen, nicht wie früher auf andere Kräfte der Bevölkerung. Und selbst deren Zuverlässigkeit und Einsatzbereitschaft darf angezweifelt werden: Beispielsweise konnte die in Peking stationierte 38.Armee-Einheit nicht eingesetzt werden, da die Studenten gerade zu diesen Truppen sehr gute Beziehungen pflegen: Sie leisten ihre obligatorischen militärischen Übungen häufig dort ab. Anscheinend wurde deshalb die nördlich von Peking stationierte 26.Armee in die Stadt geschickt.

Welche Beweggründe führen all die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammen?

Bisher hatte niemand eine Handhabe gegen den Bürokratismus und die alles zersetzende Korruption. Im Kampf dagegen überschneiden sich die Interessen aller, auch wenn Demokratie und Freiheit für die Studenten und Intellektuellen wichtigere Anliegen sein mögen als für das restliche Volk. Die Preisentwicklung in China und die verschärften gesellschaftlichen Gegensätze haben eine hohe Streikbereitschaft hervorgerufen. Und was ganz wichtig ist, die Studenten sind friedlich, sie haben sehr klar gemacht, daß Gewalt nur Gegengewalt erzeugen kann und sie sozusagen Gandhis Methode benutzen wollen. Das Volk unterstützt sie daher um so mehr. Im Unterschied zu 1986 oder gar zur Kulturrevolution, mit der es keine Berührungspunkte gibt, sind die Ziele gegenwärtig sehr klar. Es gibt keine Suche nach neuen Autoritäten. Die Bewegung fordert demokratische Entwicklungen. In China herrscht noch immer die „1.Generation“ (Gorbatschow verkörpert in der SU die 3.), die alte Garde, die ihre Legitimation noch immer aus Zeiten des Langen Marsches bezieht. Verlangt wird der Rücktritt Deng Xiaopings und Li Pengs, niemand darf mehr an seinem Sessel kleben. Es muß eine freie Presse geben können wie die von den Studenten herausgegebene 'Xinwen Daobao‘ und unabhängige Organisationen und Verbände.

Aber existiert nicht auch in China eine Art ideologisches Vakuum? Während der Demonstrationen auf dem Tiananmen waren Bilder des jungen Mao zu sehen.

Es gibt eine ideologische Krise, aber das ist die Krise der Regierung. Die neue Ideologie ist demokratisch. Die Bilder Maos, das ist wie der Geist aus der Flasche - wenn man in China Geister braucht, dann holt man sich welche. Das ist nicht von Bedeutung.

Welche Rolle spielt die Kommunistische Partei noch?

Für Deng ist es sein letztes Pokerblatt. Zhao Ziyang mußte gehen, aber auch er wäre nur das kleinere Übel gewesen. Soweit ich es sehe, gibt es im Moment an der Parteispitze keine Leute, in die man Hoffnung setzten könnte.

Welche Haltung nimmt Wang Meng ein, Kulturminister und selbst produktiver Schriftsteller?

Keine Haltung.

Befürchtest du ein inneres Chaos Chinas?

Sollte die Regierung in der Tat mit den härtesten Mitteln des Kriegsrechts durchgreifen, wird es Streiks geben, wie es sie stillschweigend jetzt schon gibt, jedoch massenhaft. Und wenn Blut fließt, wird es für die Führung sehr von Nachteil sein. Schon jetzt sind die Studenten äußerst enttäuscht. Wahrscheinlich kommt es dann zu einer sehr düsteren Periode. Aber sie wird kurz sein.

Was wird zunächst geschehen?

Die Regierung wird versuchen, die Studenten wieder in die Universitäten zurückzutreiben und die intellektuellen Führer festzunehmen. Seit den drei offenen Briefen, in denen die Freilassung Wei Jinghengs gefordert wurde, existieren schwarze Listen mit den Namen der wichtigsten intellektuellen Figuren: Fang Lizhi, Yan Jiayi, Su Shaozhi, Wang Ruoshui und viele andere.

Ich habe China am 25.April verlassen. Vorher war ich fast täglich auf dem Tiananmen, ich finde es wunderbar, was sich in den letzten Wochen dort abspielt: Künstler und Intellektuelle unterstützen die Studenten, konkret: Eine Malerin verkauft ihre Bilder, die bisher vor allem von Ausländern geschätzt wurden, und übergibt den Erlös den Studenten. Chinesen kaufen die Bilder, den Preis bestimmen sie selbst. Bis zu 3.000 Yuan kamen so an einem Tag zusammen. Das ist ein Fall unter vielen. Auch als ich jetzt zusammen mit chinesischen Schriftstellerkollegen in Amerika bei einer Konferenz war, hat uns nichts anderes beschäftigt. Ich bedauere es, jetzt nicht in China zu sein. Ich habe nicht geglaubt, daß die Entwicklungen so rapide diese Stufe erreichen würden, andernfalls hätte ich meinen Aufenthalt hier verschoben.